Individualpsychologische Beratungspraxis (DGIP)

Renate Freund

 

 

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Mit Widersprüchen leben

Kinder zwischen 6 und 10 Jahren sind nicht mehr so „pflegeleicht“ wie früher

Wenn man in etwas ältere pädagogische Literatur schaut, liest man immer von der so entspannten Großkindphase, in der wenig Probleme auftreten, nur geringe Spannungen in den Familien herrschen und alles ziemlich friedlich zugeht. Dabei meinte man mit der „Großkindphase“ den Zeitraum zwischen 6 und 12 Jahren. Erst dann würde es schwieriger werden in Vorpubertät und Pubertät. Nun ja, mein Eindruck ist, dass diese zeitlichen Angaben überholt sind. Zumindest bei den Mädchen beginnt die Reifephase viel früher, die wir dann mit Unausgeglichenheit und Aufmüpfigkeit unserer Kinder, mit Stimmungsschwankungen und vielen häuslichen Auseinandersetzungen erleben. Aber mir scheint das nicht der einzige Grund für eine Veränderung zu sein; denn auch Jungen sind in dieser Phase nicht mehr so pflegeleicht wie die Pädagogen des 20. Jahrhunderts meinten.

„Mit Widersprüchen leben“ habe ich deshalb zum Thema gewählt, und ich hoffe, dass Sie am Schluss sehen, wie vielseitig und facettenreich dieser Satz ist „Mit Widersprüchen leben“.

Kinder zwischen 6 und 12 sind ganz offensichtlich anders als früher. Das hat nicht nur mit ihrer Entwicklung zu tun, sondern ist meiner Meinung nach auch Ergebnis unserer Erziehung, unseres Umgangs mit den Kindern.

Lassen Sie es mich an einem Beispiel verdeutlichen:

Patrick ist 7 und in der 2. Klasse. Seine Schwester „gehört noch zu den Babys“; denn sie ist erst 5 und besucht den Kindergarten. Jeden Abend gibt es nun einen Kampf, weil Patrick nicht ins Bett zu bekommen ist. Er trödelt und ist Ermahnungen nicht zugänglich. Nicht mal die in Aussicht gestellte Geschichte zieht; denn Patrick kann jetzt alleine lesen. Die Mutter ist ratlos und fürchtet sich geradezu vor den abendlichen Szenen und Patricks Sprüchen. „Wieso, ihr geht doch auch erst ins Bett, wenn ihr müde seid!“ Warum kannst du das bestimmen, wann ich schlafen soll? Überhaupt bist du immer der Bestimmer. Das ist gemein! Nie darf ich was entscheiden. Ich will endlich auch mal Bestimmer sein!“

Die Mutter erlebt täglich, wie schwer Patrick morgens wach wird und wie mühsam das Aufstehen ist. Deshalb findet sie es wichtig, dass er abends pünktlich ins Bett geht. Außerdem hat sie Angst, dass er in der Schule Probleme bekommt, wenn er dort unausgeschlafen ist. Insofern meint sie, diesen Kampf jeden Abend ausfechten zu müssen.

Wahrscheinlich kennen viele von Ihnen diese Szene. Inwiefern ist sie Ergebnis unserer Erziehung?

Kinder sind unsere Partner. Wir reden mit ihnen wie mit einem Freund, voller Achtung und Respekt. Wir ermutigen sie zu Selbstständigkeit und Übernahme von Verantwortung. Wir fördern Eigeninitiative und loben alle Schritte in diese Richtung. So haben wir es gelernt und halten es für richtig. Doch was macht unser Kind daraus?

Ihm klingt noch in den Ohren „Warte, bis du ein Schulkind bist!“ „Wenn du erst groß bist und zur Schule gehst...“ Nun ist es so weit. Patrick ist sogar schon in der zweiten Klasse, der Schwester haushoch überlegen als Schulkind, und dann soll er mit ihr gleichzeitig ins Bett. (Dass Lisa morgens eine Stunde länger schlafen kann, zählt für ihn nicht). Immer noch ist Mama die Bestimmerin. Er muss ihr gehorchen wie als Kindergartenkind. Das nervt und führt zu vielen Auseinandersetzungen, nicht nur vor dem Schlafengehen.

Haben wir etwas falsch gemacht?

Nein, ich denke nicht. Es ist gut, dass unsere Kinder spüren, wie wichtig sie uns sind, wie sehr wir ihre Selbstständigkeit anerkennen und wie wir uns über jeden Schritt freuen, an dem wir merken, dass sie schon wieder ein Stück größer, älter, reifer, sicherer geworden sind. Wir wollen ja unsere Kinder zu kritikfähigen Erwachsenen erziehen. Aber das darf nicht dazu führen, dass sie sich gar nichts mehr sagen lassen wollen und keine Einschränkung mehr hinnehmen.

 

Was können wir tun? Besinnen wir uns auf einen wichtigen, schon oft zitierten Satz von Alfred Adler: Wer nach Macht strebt, sollte sie auch bekommen, wenn auch vielleicht nicht an der Stelle, an der er sie fordert. Das heißt: Patrick muss merken, dass wir anerkennen, dass er groß ist. Wir fragen uns also, wo er mehr Macht bekommen kann als die Schwester, z. B. erhält er als Schulkind Taschengeld, über das er ganz eigenständig verfügen kann, oder Patrick darf am Wochenende abends mit den Eltern einen Film im Fernsehen angucken, den die Schwester noch nicht sehen darf. Ihm wird zugetraut, dass er allein Brötchen holen geht, den Freund besucht, sogar allein ein paar Stationen mit dem Bus oder der Bahn fährt. Nun reicht es aber oft nicht, Patrick dieses alles zuzugestehen, sondern wir müssen ihm auch deutlich machen, dass er dieses darf, weil wir ihn schon für so groß und vernünftig halten.

Mit dem Älterwerden unserer Kinder geht auch einher, dass Rituale, die lange Zeit angemessen und hilfreich waren, plötzlich nicht mehr passen. War ein kleineres Geschwisterkind lange damit zufrieden, dass es ein Bilderbuch anschaute, während die Mutter vorlas, will es jetzt richtige Geschichten, die aber sind für das größere Geschwister zu „babyhaft“. Dann muss das Ritual verändert werden, indem entweder nacheinander jeder seine Geschichte gelesen bekommt, man nur jeden zweiten Tag „dran“ ist, das kleinere Kind vorgelesen bekommt, das größere dafür noch eine halbe Stunde mit den Eltern ein Spiel spielen oder auch nur reden darf.

Wichtig ist dabei, dass Sie solche Veränderungen mit Ihrem Kind besprechen und auch nach seinen Wünschen fragen (daran erlebt es, dass Sie sein Groß-Sein ernstnehmen und es respektieren). Ändern Sie Rituale nach einer Auseinandersetzung mit dem Kind, bleibt in ihm (unbewusst) der Gedanke „Wenn ich nur kräftig Streit mache, dann tut Mama schon, was ich will“. Das aber hat fatale Folgen; denn nun wird noch viel ausdauernder gekämpft.

In diesem Alter sind Ihre Kinder schon so wortgewandt, dass sie über alles mit Ihnen diskutieren können und wollen. War das „Warum“ der Vierjährigen Ausdruck von Wissbegierde und Interesse an der Umwelt (manchmal sicher auch nur eine gute Möglichkeit, die Erwachsenen mit sich zu beschäftigen), so fordern die Kinder jetzt Erklärungen für Maßnahmen, Begründungen, die ihnen einleuchten sollen. Und da sind wir im doppelten Sinne bei den Widersprüchen. Halten unsere Kinder sich doch schon für sooo groß, so sehen wir noch viele Gefahren und Situationen, denen sie nicht gewachsen sind und vor denen wir sie schützen möchten. So ist es schwer, Einsicht und Einvernehmlichkeit zu erzielen.

An unserem Beispiel lässt sich aber ein Weg gut deutlich machen, der auf verschiedene Situationen übertragbar ist. Die Mutter sollte sagen, dass sie ab einem bestimmten Zeitpunkt Feierabend hat, und das heißt, dann bleiben die Kinder in ihren Zimmern und stören die Eltern nicht mehr. Wenn die Mutter Patrick nicht Abend für Abend ins Bett treibt, sondern ihm überlässt, wann er schläft, wird er das zwar ein paar Tage ausnutzen, aber auf längere Sicht seinen Weg finden. Die Folgen des zu späten Ins-Bett-Gehens hat Patrick allerdings selber zu tragen, d. h. die Mutter weckt ihn nur einmal (eventuell klingelt noch Patricks Wecker). Wenn er dann nicht aufsteht, ist das seine Sache. Da ist vielleicht noch notwendig, sich die Lehrerin von Patrick zur Verbündeten machen; denn erst wenn sie das Zuspätkommen kritisiert, kann Patrick etwas daraus lernen.

Nicht reden, sondern handeln oder sagen, was man selber zu tun gedenkt, hilft viele Diskussionen zu vermeiden; denn erst das „Du sollst“, „du musst“ oder „du darfst nicht“ lösen den Widerspruch aus, weil das Kind, das so gerne groß sein möchte, sich dadurch klein fühlt. „Ich habe jetzt frei.“ „Ich möchte gerne in Ruhe essen“ „Nach dem Abendbrot bin ich zu müde, um noch mit dir Hausaufgaben zu machen.“ Sind solche Botschaften, die eine klare Anweisung an unser Kind enthalten, die jedoch nicht zum Widerspruch herausfordert.

Wenn Sie einfach nicht zu Abend essen, weil Fritz nicht gedeckt hat, wie es seine Aufgabe wäre, wenn es keinen Saft gibt, weil kein Kind bereit war ihn aus dem Keller zu holen, wenn Kleidung, die im Zimmer statt in der Wäschetonne liegt, nicht gewaschen wird, sind das solche Handlungen.

Damit man dies nicht missversteht, möchte ich eine Geschichte anfügen, in der das Handeln gar zu deutlich ein „Du musst“ ersetzt. Das spüren unsere Kinder sofort und akzeptieren es oft nicht. 

Weil Thorsten in der Pause liebend gern Fußball spielt, hat die Mutter ihm eine ältere Jeans herausgelegt, die er am nächsten Tag zur Schule anziehen soll. Thorsten aber findet die neue beige Schlaghose viel cooler und zieht diese an. Natürlich ist sie mittags ziemlich schwarz.

Hier hätte Reden vielleicht geholfen; denn wenn die Mutter ihr Verständnis signalisiert hätte, dass auch sie die Schlaghose gut findet, aber eben nicht praktisch für den Zweck, dann hätte Thorsten möglicherweise anders entschieden.

Trotzdem gibt es noch eine Möglichkeit, dass Thorsten aus der Situation lernt.

„Die wird so ohne Weiteres in der Waschmaschine nicht wieder sauber.“, kann die Mutter ehrlich erklären, „Wenn du dir deine Hose erhalten möchtest, hilft nur, sie mit Gallseife und einer Bürste zu schrubben.“

Damit sind wir bei einem Punkt, der in diesem Lebensabschnitt Ihrer Kinder immer wichtiger wird. Viele Konsequenzen aus dem eigenen Handeln können und sollen die Kinder jetzt selber tragen! Wer etwas mutwillig kaputt macht, sollte es reparieren oder wenigstens z.T. bezahlen (aber bitte nicht das ganze Taschengeld einbehalten, das führt leicht dazu, dass Kinder klauen). Auch deals sind erlaubt. Wenn Papa schon wieder das Fahrrad reparieren muss, weil das Kind damit unachtsam umgegangen ist, ist es fair, wenn das Kind deshalb das Laubrechen übernimmt. (man beachte die Wortwahl! Da steht nicht „Zur Strafe“ oder „Dann musst du...“, sondern von Fairness ist die Rede!).

Kinder selber wieder Dinge in Ordnung bringen zu lassen – aber bitte ohne erhobenen Zeigefinger oder ein „Siehste, das hättest du alles nicht nötig, wenn..“ – ist nicht nur erziehlich, sondern stärkt auch das Selbstwertgefühl. Lassen Sie die Kinder auch Aufgaben übernehmen wie kleine handwerkliche Tätigkeiten, das Kochen oder Backen von kleinen Gerichten. Bringen Sie Ihren Kindern – und zwar Jungen wie Mädchen - ruhig noch Häkeln und Stricken bei. Die Freude über ein (halbwegs) gelungenes Ergebnis schafft Selbstvertrauen