Individualpsychologische Beratungspraxis (DGIP)

Renate Freund

 

 

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Ängste

Wer kennt es nicht, dieses Gefühl, wenn die Hände schweißnass werden, es im Magen zu zittern beginnt, wenn man schwitzt oder friert und die Zähne klappen?  Oder neigen Sie eher dazu, leichenblass zu werden, unfähig, sich zu bewegen oder umgekehrt nicht eine Sekunde ruhig stehen bleiben zu können, bekommen Sie Probleme mit Blase und Darm, verschlägt es Ihnen die Stimme oder zittern die Knie ?

Wir merken schon, die Angst selber können wir nicht sehen, wohl aber ihre vielfältigen Auswirkungen auf Seele und Körper, und wir erleben, dass sie untrennbar zu unserem Leben, ja, auch zu dem der Tiere dazugehört. Das heißt aber nicht, dass wir uns dieser Tatsache ständig bewusst wären, doch genauso wie der Tod nicht aufhört zu existieren, wenn wir nicht an ihn denken, so verschwindet auch die Angst nicht, sondern ist Bestandteil unseres Lebens. Sie tritt immer dann auf, wenn wir uns in einer Situation befinden, der wir nicht bzw. noch nicht gewachsen sind und in der wir unsere Hilflosigkeit und Ohnmacht oder Abhängigkeit spüren.

Zwei wichtige Funktionen hat die Angst: Zum einen ist sie Signal und Warnung bei Gefahren. Befinden wir uns nämlich in einer gefährlichen Situation, löst die Angst in uns Reaktionen aus, die uns zu Höchstleistungen befähigen können, um der bedrohlichen Lage zu entkommen. Dann setzt die Nebenniere das Hormon Adrenalin frei. Dadurch zirkuliert das Blut in unserem Kreislauf viel schneller, wodurch den Gliedmaßen und der Muskulatur mehr Energie zugeführt wird, die uns eine größere Laufgeschwindigkeit ermöglicht als wir sie sonst zu erreichen vermögen. Damit haben wir eine Chance zur Flucht aus der Gefahrensituation.

Die andere wichtige Funktion der Angst ist ihr Aufforderungscharakter, der Antrieb, die Angst zu überwinden.  Wir sollen die Herausforderung spüren, einen neuen Entwicklungsschritt zu wagen, indem wir die durch die Angst gesetzte Grenze überschreiten und damit in unserer Weltbewältigung ein Stück vorankommen. So kann die Auseinandersetzung mit unserer Angst uns dazu verhelfen, stärker und wissender zu werden. Wir können unseren Erlebnis- und Erfahrungshorizont erweitern, wenn wir trotz unserer Angst neue Wege beschreiten und hinterher feststellen, dass es so schlimm gar nicht war.

Angst gibt es unabhängig von der Kultur und dem Entwicklungsstand eines Volkes oder eines einzelnen, verschieden sind lediglich die Angstobjekte (dasjenige, das die Angst auslöst) und die Mittel und Maßnahmen, die wir gegen die Angst einsetzen. So hilft uns unser Wissen um Vorgänge in der Natur und Umwelt, Phänomene nicht mehr als angstauslösend zu erfahren, angesichts derer Menschen früherer Jahrhunderte in Panik geraten wären (z.B. Donnergrollen, Sonnenfinsternisse, Nebelschwaden u.ä.). Dafür aber gibt es neue Ängste, die die Menschen von früher nicht kannten, z. B. vor Atomkatastrophen, Umweltzerstörung oder Aids.

Jedem Alter und Entwicklungsstand entsprechend gibt es bestimmte Ängste, die der körperlich und seelisch gesunde Mensch durchsteht und deren Bewältigung für seine Entwicklung wichtig ist (z.B. die Hand der Mutter loszulassen und allein die ersten Schritte zu wagen, der erste Tag in Kindergarten, Schule oder einer neuen Arbeitsstätte, die erste Fahrstunde, der Umgang mit Tieren usw.).

Bei aller Verschiedenheit unserer Ängste, die von unseren individuellen Anlagen und Lebensbedingungen abhängen, gibt es aber auch bestimmte Ängste, die wir alle durchmachen müssen, weil sie zu unserem Menschsein, zu unserer Befindlichkeit in der Welt gehören und mit unserer Situation des Abhängigseins zusammenhängen. Diese Grundängste, die wir in unserer frühsten Kindheit erleben, sind für unsere Entwicklung ganz besonders wichtig, weil unsere spätere Angstbereitschaft und unsere Mittel zur Angstbewältigung weitgehend davon abhängig sind, welchem Ausmaß an Angst wir in unserer Frühzeit ausgesetzt waren.

Jedes Neugeborene ist in den ersten Lebenswochen total abhängig und hilflos der Umwelt ausgeliefert. Zugleich muss es so viele Anpassungen vollziehen wie nie wieder in seinem Leben und kann sich so wenig artikulieren bezüglich seiner Bedürfnisse und Nöte. Dadurch wird eine tiefe Angst ausgelöst, die Existenzangst. Es hängt nun entscheidend von der Umwelt des Kindes ab, ob es gegen diese Existenzangst durch ein allmählich sich entwickelndes Vertrauen eine Gegenkraft finden kann. Vertrauen wächst durch das Erleben von Verlässlichkeit, dass Menschen und Dinge regelmäßig wiederkehren, dass man nicht allein und verlassen ist, sondern die Geborgenheit durch die Nähe seiner Bezugspersonen spürt.

Wird ein Kind in dieser frühen Phase seines Lebens bereits vernachlässigt oder aber auch durch eine zu große Fülle von Reizen und wechselnden Bezugspersonen verunsichert, erlebt es die Welt als bedrohlich und unheimlich. Als Schutzhaltung ihr gegenüber entwickelt das Kind eine vorsichtige, misstrauische Distanz zu Dingen und Menschen. Jedes Überschreiten dieser Distanz löst in seinem weiteren Leben bei ihm Angst aus, ein Gefühl der Bedrohung, dem er mit aggressiver oder denfensiver Abwehr begegnet. Hier kann bei einem Erwachsenen dann die tiefe Ursache dafür liegen, dass er Zuneigung und Liebe eines Partners als bedrohlich erlebt und nicht ertragen, geschweige denn erwidern kann (obwohl tief innen in jedem Menschen die Sehnsucht nach Nähe und Dazugehörigkeit ist).

Ein Mensch mit ausgeprägter Existenzangst wird immer nach größtmöglicher Unabhängigkeit streben, um nur ja auf niemanden angewiesen sein zu müssen. Er wird sich immer bemühen, möglichst allen überlegen zu sein.

Wird das kleine Kind etwas älter, so vermag es seine Bedürfnisse immer besser auszudrücken und fühlt sich nicht mehr in dem Maße ausgeliefert wie in der Neugeborenenphase. Nun aber hat es seine Mutter (oder eine andere beständige Bezugsperson) als die Quelle aller Bedürfnisbefriedigung und Geborgenheit erkannt und sieht in ihr seinen wichtigsten Bezugspunkt. Entfernt sich die Mutter, löst das Angst aus. Erfährt das Kind nicht, dass sie regelmäßig wiederkommt, fühlt es sich alleingelassen und verloren. Es entwickelt eine Trennungs- oder Verlustangst, die später bei Abschieden und Trennungen immer wieder aktiviert wird und Menschen in hoffnungslose Verzweiflung stürzen kann. Jeder Abschied wird als schmerzlicher erlebt als der Situation angemessen wäre und löst tiefe Angstgefühle aus. Sein Leben meint der Mensch mit Trennungs- und Verlustangst nur bestehen zu können, wenn er immer nach größtmöglicher Nähe zu Menschen strebt. Man wird sich an den Partner klammern, eifersüchtig alle vermeintlichen Störungen auszuschalten versuchen und selber aufopfernd und entsagungsvoll für den Partner leben. Nur schwer können sich Menschen mit Verlustangst eigenständig entwickeln, da ihr Bedürfnis, nicht verlassen zu werden, sie immer ängstlich nach den Wünschen und Meinungen des Partners schielen lässt. Menschen mit der Grundangst vor Trennung und Verlassenwerden haben eine depressive Grundhaltung und streben danach, anderen stets zu gefallen. 

Mit zunehmender Eigenständigkeit löst sich das Kind aus der Mutterbindung. Es erwirbt Fähigkeiten, seine Umwelt selbstständig zu erfahren und entwickelt seinen eigenen Willen. Dadurch entstehen erste Konflikte mit den Eltern, die bestimmte Ge- und Verbote aussprechen. Das Kind lernt, erlaubt und verboten zu unterscheiden, und kann sich im Gehorchen als „gut“ wie im Ungehorsam als „böse“ erfahren. In dieser Entwicklungsphase kann eine neue Angst entstehen, nämlich die Angst vor Schuld und Strafe oder die Gewissensangst. Das wird immer dann der Fall sein, wenn Eltern ihre Kinder autoritär dressieren, mit harten Strafen erziehen und nur schwer zum Verzeihen zu bewegen sind. Solche Kinder werden im weiteren Leben aus Angst vor Strafe vor eigenständigen Entscheidungen scheuen, keinen Mut zum Wagnis haben, sich peinlich genau an Verordnungen und Gelerntes halten und immer einen festen, ordentlichen Rahmen brauchen. Viele können ihr Leben nur mit Hilfe von Zwangshandlungen bewältigen. Sie fühlen sich nur wohl, wenn sie alles und alle, einschließlich sich selber, unter Kontrolle haben.

Hat das Kind erst einmal in dem begrenzten Rahmen der Kleinstfamilie eine gewisse Selbstständigkeit und Sicherheit erlangt, wird es jetzt vor eine neue Aufgabe gestellt, nämlich sich auch in einem erweiterten Umfeld zu bewähren. Es erlebt Geschwister oder Freunde als Rivalen, muss sich mit ihnen messen und es entdeckt den Geschlechtsunterschied. Nun braucht es Vorbilder, an denen es sich orientieren kann und die ihm helfen, eine eigene Identität zu entwickeln. Es will erfahren, dass es als Gesamtpersönlichkeit angenommen und geliebt wird, dass es seinen Platz in der Gemeinschaft hat und den anderen wichtig ist. Wenn das Kind diese Erfahrungen nicht machen kann, weil die Eltern keine geeigneten Vorbilder sind, weil ihm niemand hilft, mit den Forderungen des Lebens zurechtzukommen, und es Ablehnung und Erniedrigung spürt statt Zuwendung und Ermutigung, wird es eine tiefe Angst vor Blamage, vor dem Versagen entwickeln und in seinem Selbstwertgefühl gestört sein. Im weiteren Leben wird ein solcher Mensch vor allen Prüfungen, vor rivalisierenden Auseinandersetzungen mit anderen und vor dem Eingehen einer Beziehung zu einem Partner Angst haben; denn dahinter steht die Meinung von sich selbst: "Ich bin nichts wert." Dieser Mensch könnte die Priorität "Bequemlichkeit" entwickeln, aber auch im Kontrollieren eine wenig Sicherheit finden.

Wenn Menschen sehr große Angst vor Dingen oder Situationen haben, die objektiv ungefährlich sind und bei den meisten Menschen keine Angst auslösen, spricht man von Phobien, z.B. Angst vor Insekten  (Entomophobie), vor dem Rotwerden (Erytrophobie), vor dem Überqueren einer Brücke oder eines Platzes (Agoraphobie), vor Menschenansammlungen oder dem Aufenthalt in geschlossenen Räumen (Klaustrophobie). Phobien entwickeln die Menschen, wenn in ihnen eine tiefe Grundangst steckt, die ihnen jedoch nicht bewusst ist. Dann wird für sie die Phobie ein Weg, wie sie etwas gegen ihre Grundangst tun können. Wenn z.B. jemand wegen einer Klaustrophobie nicht allein bleiben oder wegen einer Agoraphobie nicht einkaufen gehen kann, bindet das den Partner und man wirkt der tiefen Angst vor dem Verlassenwerden (Trennungs- oder Verlustangst) entgegen.

Wie bei den vier Grundängsten (die Existenzangst, die Angst vor Trennung und Verlust, die Angst vor Schuld und Strafe sowie die Angst vor Blamage und Ablehnung) jeweils ein neuer Entwicklungsschritt im Leben des Kindes eine Rolle spielt, so können wir auch bei anderen Ängsten davon ausgehen, dass auch dort etwas Neues und Unbekanntes in das Leben des Kindes getreten ist.. Mit diesem Wissen haben wir einen guten Zugang zum Verstehen der kindlichen Ängste.

Wenn wir uns die Entwicklung des Kindes vor Augen führen, müssen wir also immer auf die neuen Situationen in seinem Leben schauen, denn dort liegen die Angstauslöser. Wir wissen, dass der akuten Angst eine der Grundängste zugrunde liegen kann. Um den Kindern aus ihrer Angst zu helfen, müssen wir aber auch das angegebene Angstobjekt ernst nehmen und uns damit auseinandersetzen.