1. Der
Ton macht die Musik
„Den
Mutigen gehört die Welt“. Dieser Spruch gilt nicht nur für
Erwachsene, sondern auch Kinder mit einem guten Selbstwertgefühl
haben bessere Chancen. Trotzdem passiert
es häufig, dass Eltern gar nicht merken, wenn sie ihre Kinder
entmutigen. So geht es auch der Mutter in folgendem Beispiel:
Sandra, drei Jahre alt, hat sich allein angezogen.
Ganz stolz läuft sie zu ihrer Mutter. Diese sieht nun allerdings
sofort, dass die Knöpfe schief geschlossen sind und dass Sandra die
Schuhe jeweils an den falschen Fuß gezogen hat. So lacht sie laut,
als die Tochter vor ihr steht: "Wie siehst du denn aus! Wir
haben doch nicht Fasching! Du bist ja ganz schief geknöpft! Entenfüße
hast du auch! Und überhaupt! Dieser Pulli passt nun wirklich nicht
zu dem Rock! Los, du gehst noch mal nach oben und ziehst die rote
Hose an, dann siehst du wenigstens anständig aus! Aber beeile dich!
Alle anderen sitzen schon am Frühstückstisch!"
Wie mag
die Geschichte weitergegangen sein? Dass Sandra nach oben gelaufen
ist und sich in Windeseile umgezogen hat, halte ich für sehr
unwahrscheinlich. Falls sie überhaupt nach oben gegangen ist, wird
sie vermutlich nur schwer zu bewegen gewesen sein, wieder
herunterzukommen, Warum? Was mag in Sandra vorgegangen sein in den
wenigen Sekunden, die Mutter und Tochter miteinander sprachen?
Die
Mutter hat das Kind ausgelacht, und Sandra hat unbewusst für sich
den Schluss daraus gezogen: "Dann bin ich auch nichts
wert" und fühlt sich beschämt. Die Versuche, sich ganz allein
anzuziehen, enden mit Beschimpfung. Sandra schließt daraus:
"Es lohnt sich nicht sich anzustrengen! Ich hab' ja doch keinen
Erfolg". Schließlich sind da noch die Befehle der Mutter
"Los, du gehst..." und dieses Gegenüberstellen "alle
anderen sitzen schon am Frühstückstisch". Vielleicht kocht
Sandra jetzt vor Wut, macht der Mutter eine Szene, tobt und schreit,
widersetzt sich, oder sie bleibt stumm stehen und gibt die eigene
Ohnmacht, die sie spürt, an die Mutter zurück. Natürlich sind
dies alles völlig unbewusste Vorgänge.
Wie
hätte die Mutter sich nun in dieser Situation sinnvoller verhalten
sollen? Zunächst hätte sie sich einfach mal freuen können, dass
Sandra sich allein angezogen hat. Sie hat sich ja immerhin Mühe
gegeben. Dass noch nicht alles in Ordnung ist, kann man durchaus
sagen, nur der Ton macht die Musik, z. B.
"Guck dir doch deine Knopfreihe noch mal an. Mir
scheint, da stimmt was nicht" oder "Findest du Entenfüße
bequemer, oder ist dir das aus Versehen passiert?"
Geschmack
und Sinn für Farbkombinationen entwickeln sich erst im Laufe der
Jahre. Ich denke, entweder ist man bereit, einmal darüber hinweg zu
sehen, um den Erfolg des selbstständigen Anziehens nicht zu schmälern,
oder man sagt es sehr vorsichtig und bittet, dass das Kind ein
Kleidungsstück wechselt (Kind kann wählen, ob Pullover oder Hose).
Oft kann man solchen unerfreulichen Diskussionen auch vorbeugen,
indem man am Abend vorher gemeinsam mit dem Kind eine Auswahl
trifft.
Was können wir grundsätzlich aus dem Beispiel
lernen?
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Über
jemanden zu lachen
verletzt, mit jemandem zu lachen verbindet
-
Das
Bemühen anzuerkennen bringt mehr als Fehler zu tadeln
-
Befehle
fordern Widerspruch heraus
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Wer
immer die anderen als leuchtende Beispiele vorgestellt bekommt,
wird entmutigt
-
Wenn
ich mit dem Kind wie mit einem Freund rede, finde ich eher den
richtigen Ton.
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