Individualpsychologische Beratungspraxis (DGIP)

Renate Freund

 

 

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 Begebenheiten aus dem Alltag

 
 1. Der Ton macht die Musik

„Den Mutigen gehört die Welt“. Dieser Spruch gilt nicht nur für Erwachsene, sondern auch Kinder mit einem guten Selbstwertgefühl haben bessere Chancen. Trotzdem passiert es häufig, dass Eltern gar nicht merken, wenn sie ihre Kinder entmutigen. So geht es auch der Mutter in folgendem Beispiel:

Sandra, drei Jahre alt, hat sich allein angezogen. Ganz stolz läuft sie zu ihrer Mutter. Diese sieht nun allerdings sofort, dass die Knöpfe schief geschlossen sind und dass Sandra die Schuhe jeweils an den falschen Fuß gezogen hat. So lacht sie laut, als die Tochter vor ihr steht: "Wie siehst du denn aus! Wir haben doch nicht Fasching! Du bist ja ganz schief geknöpft! Entenfüße hast du auch! Und überhaupt! Dieser Pulli passt nun wirklich nicht zu dem Rock! Los, du gehst noch mal nach oben und ziehst die rote Hose an, dann siehst du wenigstens anständig aus! Aber beeile dich! Alle anderen sitzen schon am Frühstückstisch!"

Wie mag die Geschichte weitergegangen sein? Dass Sandra nach oben gelaufen ist und sich in Windeseile umgezogen hat, halte ich für sehr unwahrscheinlich. Falls sie überhaupt nach oben gegangen ist, wird sie vermutlich nur schwer zu bewegen gewesen sein, wieder herunterzukommen, Warum? Was mag in Sandra vorgegangen sein in den wenigen Sekunden, die Mutter und Tochter miteinander sprachen?

 Die Mutter hat das Kind ausgelacht, und Sandra hat unbewusst für sich den Schluss daraus gezogen: "Dann bin ich auch nichts wert" und fühlt sich beschämt. Die Versuche, sich ganz allein anzuziehen, enden mit Beschimpfung. Sandra schließt daraus: "Es lohnt sich nicht sich anzustrengen! Ich hab' ja doch keinen Erfolg". Schließlich sind da noch die Befehle der Mutter "Los, du gehst..." und dieses Gegenüberstellen "alle anderen sitzen schon am Frühstückstisch". Vielleicht kocht Sandra jetzt vor Wut, macht der Mutter eine Szene, tobt und schreit, widersetzt sich, oder sie bleibt stumm stehen und gibt die eigene Ohnmacht, die sie spürt, an die Mutter zurück. Natürlich sind dies alles völlig unbewusste Vorgänge.

 Wie hätte die Mutter sich nun in dieser Situation sinnvoller verhalten sollen? Zunächst hätte sie sich einfach mal freuen können, dass Sandra sich allein angezogen hat. Sie hat sich ja immerhin Mühe gegeben. Dass noch nicht alles in Ordnung ist, kann man durchaus sagen, nur der Ton macht die Musik, z. B.  "Guck dir doch deine Knopfreihe noch mal an. Mir scheint, da stimmt was nicht" oder "Findest du Entenfüße bequemer, oder ist dir das aus Versehen passiert?"

 Geschmack und Sinn für Farbkombinationen entwickeln sich erst im Laufe der Jahre. Ich denke, entweder ist man bereit, einmal darüber hinweg zu sehen, um den Erfolg des selbstständigen Anziehens nicht zu schmälern, oder man sagt es sehr vorsichtig und bittet, dass das Kind ein Kleidungsstück wechselt (Kind kann wählen, ob Pullover oder Hose). Oft kann man solchen unerfreulichen Diskussionen auch vorbeugen, indem man am Abend vorher gemeinsam mit dem Kind eine Auswahl trifft.

Was können wir grundsätzlich aus dem Beispiel lernen?

  • Über jemanden  zu lachen verletzt, mit jemandem zu lachen verbindet

  • Das Bemühen anzuerkennen bringt mehr als Fehler zu tadeln

  • Befehle fordern Widerspruch heraus

  • Wer immer die anderen als leuchtende Beispiele vorgestellt bekommt, wird entmutigt

  • Wenn ich mit dem Kind wie mit einem Freund rede, finde ich eher den richtigen Ton.