Individualpsychologische Beratungspraxis (DGIP)

Renate Freund

 

 

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Wenn Kinder lügen

Wem ist es als Eltern nicht schon passiert, dass Sie ganz genau gemerkt haben, Ihr Kind sagt nicht die Wahrheit?! Oder wer hat noch nicht entdeckt, dass die Süßigkeitendose plötzlich leer, das letzte Eis aus dem Gefrierschrank verschwunden oder gar Geld aus dem Portemonnaie genommen war?! In solchen Situationen fühlen wir uns oft hilflos, und deshalb möchte ich sie zum Thema machen.

Neulich konnte ich folgende Szene beobachten:

Ich unterhielt mich mit einer Nachbarin, während ihre dreijährige Tochter zu unseren Füßen spielte. "Nicht so laut, Melanie!" ermahnte die Mutter,  worauf das Kind entgegnete: "Ich hab ja gar nichts gesagt, das war doch Fridolin!" (womit die Puppe gemeint war) 

Hatte Melanie nun gelogen? Nein! Im Alter von Melanie gehen Phantasie und Wirklichkeit, Vorstellung und Realität noch so durcheinander, dass Melanie laut reden und sich dabei vorstellen kann, das täte jetzt die Puppe. Mit gleicher Überzeugung hätte sie auch zur Antwort geben können: "Ich bin gar nicht Melanie, sondern eine Hexe, ein Zwerg, die Nachbarin oder ein Kuscheltier, das den Lärm veranstaltet.", und auch das wäre in dem Moment ihre Überzeugung gewesen. Deshalb ist es unmöglich, von einem Kind in diesem Alter zum Beispiel einen Tathergang geschildert zu bekommen, weil man nie sicher sein kann, was wirklich erlebt und was ausgedacht ist. Lügen aber ist ein absichtliches Sagen der Unwahrheit - aus welchen Motiven, werden wir später noch untersuchen.

Im sechsten Lebensjahr wächst dann allmählich die Unterscheidungsfähigkeit von Phantasie und Realität. Es kann Ihnen allerdings auch jetzt noch passieren, dass Ihnen Ihr Kind eine wilde Geschichte auftischt, von einem Mann, der in Ihrer Abwesenheit im Haus war, lauter Zaubertricks gemacht hat und zwei süße kleine Hunde besaß. Ja, und wenn Sie dann weiter nachforschen, werden Sie irgendwann feststellen, dass das alles gar nicht stimmen kann, sondern nur eine Phantasiegeschichte Ihres Kindes war. (Vielleicht gab es Teile aus der Erzählung gerade gestern im Fernsehen?!) In dem Augenblick aber, in dem das Kind die Geschichte erzählt, versetzt es sich selbst so sehr in seine Phantasiewelt, dass es die Dinge wirklich glaubt, die es da beschreibt.  Häufig sind eigene Wünsche - hier vielleicht der kleine Hund - darin enthalten.

Wie verhalten Sie sich nun angemessen? Einfach zu sagen: "Ach, das stimmt doch nicht! Du spinnst!", wird weder der Situation noch Ihrem Kind gerecht. Aber Sie können schon durchblicken lassen, dass Sie wissen, dass der Zauberer nur ausgedacht war. Angemessen wäre z.B. so zu reagieren: "In unser Haus kommt kein Zauberer mit zwei Hunden; denn durch die Türen kann sich niemand zaubern, und die hatte ich ja abgeschlossen, als ich ging. Aber deine Geschichte ist toll. Geschichten ausdenken mag ich auch gern. Wollen wir mal zusammen überlegen, was der Zauberer noch alles gemacht hat...?" 

Überschaubare reale Vorgänge kann ein Kind mit fünf Jahren durchaus angemessen beurteilen. Wenn es sagt:  "Ich habe das Glas nicht herunter geworfen!" tut es das, um sich vor vermeintlichen Folgen zu schützen, aber nicht mehr, weil es das nicht besser weiß. Hier sind wir nun bei einem wichtigen Anlass des Lügens angekommen: Angst vor Strafe oder den Folgen eines Fehlverhaltens. Das fängt mit so kleinen Dingen an wie oben in dem Beispiel und geht dann weiter mit Ausreden (meine Uhr ist stehen geblieben, der Bus ist einfach eine Minute zu früh abgefahren, mein Fahrrad war kaputt usw.) - wer kann sich nicht selbst an solche Ausflüchte in seiner Kinder- und Jugendzeit erinnern?

Das nächste Beispiel soll uns einen anderen Grund zeigen, weshalb Kinder lügen:

Mareike, acht Jahre alt, hat in der Schule erzählt, sie hätten zuhause einen Swimmingpool mit einer Riesenrutsche und einem drei Meter hohen Sprungbrett, von dem sie sich herunterzuspringen traut. Je mehr die Kinder das bezweifeln, desto genauer malt sie ihnen den Garten mit Pool aus.

Mareike ist nicht bewusst, dass sie ihre Situation nur immer schwieriger macht durch immer neue Lügengeschichten, und dass es ein böses Erwachen geben wird, sowie eine der Schulkameradinnen sie einmal besucht. Aber uns ist klar: um Angst vor Strafe geht es hier nicht! Wahrscheinlich lügt Mareike, weil sie endlich einmal toll in der Klasse dastehen möchte. Offenbar fühlt sie sich auf andere Weise nicht in der Lage, von den anderen anerkannt, akzeptiert oder bewundert zu werden. Ihr eigenes Selbstwertgefühl scheint nicht sonderlich ausgeprägt zu sein, dass sie zu so massiven Geschichten kommt. Wenn die Kinder älter geworden sind, gibt es auch noch Angebereien, nur bleiben diese nicht so offensichtlich wie in dem Beispiel mit der Achtjährigen.

Ein dritter Anlass für Lügengeschichten kann darin bestehen, dass ein Kind sich durch das Lügen Vorteile erhofft oder auch verschafft. Auch dazu wieder ein Beispiel: 

Fabian (12) streitet sich mit seinem zwei Jahre jüngeren Bruder: "Du hast mir aber gestern versprochen, dass du für mich den Abendbrotstisch deckst, und was man versprochen hat, das muss man halten!" Sven beteuert, er habe es mit Sicherheit nicht versprochen; denn er wusste ja, dass es jetzt seine Lieblingssendung im Fernsehen gibt, doch der Bruder lässt das nicht gelten. "Du musst decken, sonst bist du ein Lügner!" Hätte die Mutter nicht das Gespräch vom Vorabend noch genau in Erinnerung, wäre Sven wohl nichts anderes übriggeblieben, aber so kann die Situation geklärt werden, und Fabian kommt mit seiner Lüge nicht durch.

Was war hier der Grund zu lügen? Fabian wollte ohne Zweifel allein seine Situation verbessern, sich einen Vorteil verschaffen. Achten Sie einmal darauf, wie häufig das auch bei Erwachsenen ein Motiv ist, einfach Unwahrheiten zu behaupten ("Ich war aber vor Ihnen an der Kasse!" oder "Den Termin hatte ich aber rechtzeitig abgesagt, das müssen Sie einzutragen vergessen haben" usw)!

Wenn wir die kleinkindlichen Phantasiegeschichten unberücksichtigt lassen, haben wir also drei Beweggründe, die Menschen zum Lügen veranlassen: die Angst vor Strafe, das mangelnde Selbstwertgefühl und der Wunsch nach eigenen Vorteilen. Wichtig ist dabei immer, dass die "Lügner" für sich in dem Augenblick keine andere angemessenere Weise sehen, um in ihrer Situation klarzukommen. Das sollte uns deutlich sein, wenn wir als Eltern auf das Lügen unserer Kinder reagieren. Wir sollten aber auch im Blick haben, dass Kinder Mittel und Wege beibehalten (können), die ihnen zum Erreichen ihrer Ziele erfolgreich scheinen. Das heißt je mehr unser Kind mit seinem Lügen erreicht hat, was es wollte, desto häufiger wird es dieses Mittel auch einsetzen.

Wie wir sinnvoll auf das Lügen unserer Kinder reagieren können, möchte ich gleich darstellen. Vorher aber werde ich auf die Frage eingehen, was denn das Lügen bei uns Eltern auslöst. Versuchen Sie einmal, sich an eine Situation zu erinnern, in der Sie eines Ihrer Kinder angelogen hat und spüren Sie einmal nach innen, was Sie dabei empfunden haben! Ich denke, das erste Gefühl ist Betroffenheit, vielleicht auch Enttäuschung, dass unser Kind es nötig zu haben meint, mit uns so umzugehen. Warum kann es sein Fehlverhalten nicht zugeben oder muss sich vor uns in einem besseren Licht darstellen? Wir fühlen uns ungerecht behandelt und bloßgestellt und fragen uns vielleicht, was wir denn in der Erziehung falsch gemacht haben. Möglicherweise haben wir auch Sorge, dass dieses Lügen in der Kindheit sich verstärken kann und den Anfang einer kriminellen Karriere bedeutet.

Die ersten Fragen an uns, nämlich danach, wie das Kind die Beziehung zu uns erlebt, ist wichtig. Es ist mit Sicherheit nicht immer so, dass irgendetwas zwischen Eltern und Kind nicht in Ordnung ist, aber immerhin sollten wir danach fragen und mit dem Kind darüber ein Gespräch führen. Wichtig ist, dass dies nicht in der akuten Situation geschieht, also in dem Augenblick, in dem das Kind uns gerade angelogen hat; denn meistens reagieren wir dann zu emotional und sind noch zu sehr mit unserer eigenen Verletzung beschäftigt, als dass wir wirklich offen wären für irgendwelche Sorgen oder Nöte des Kindes. Ein Gespräch könnte etwa so anfangen: 

·      Mutter/Vater: "Sag mal, warum hast du nicht den Mut gehabt, uns zu erzählen, dass..."

·      "Schade, dass du nicht gleich gesagt hast, dass..."

·      "Was können wir tun, damit du mehr Mut hast, die Wahrheit zu sagen?"

·      "Wie schaffen wir es, ehrlicher miteinander umzugehen?"

Zum Schluss wäre wichtig, dass zum einen deutlich wird, wie schwer Vertrauen gemacht wird, wenn man nicht weiß, ob der andere lügt. Mit kleinen Kindern kann man als Erfahrung verabreden, dass man z. B. einen Lügennachmittag einführt, an dem jeder so viele Geschichten erfinden kann, wie er möchte. Das Kind wird seine Enttäuschung spüren, wenn das versprochene Eis nicht im Kühlschrank ist oder der in Aussicht gestellte Kinobesuch nicht stattfindet oder eine falsche Anschuldigung im Raum steht. Vielleicht lernt es durch ein solches "Spiel", was Verlässlichkeit und Vertrauenswürdigkeit bedeuten.

Viele stellen die Frage, ob Lügen in der Kindheit eine Vorform von kriminellen Handlungen bedeutet, ob also ein Kind, das viel lügt, später straffällig wird - sei es nun durch Betrügereien, Diebstahl, Hochstapelei oder andere Unehrlichkeiten - Aber das ist von den Forschern nicht eindeutig beantwortet worden. Ich meine allerdings, dass man darauf so auch keine Antwort geben kann, und das möchte ich im folgenden erklären:

Sicher ist, dass nicht alle Kinder, die lügen, später einmal kriminell werden. Hat ein Kind aber die Erfahrung gemacht, dass es nur auf unehrliche Weise an das Ziel seiner Wünsche kommt, weil niemand sich genügend kümmert und sich Gedanken um sein Wohl macht, wird es diese Strategie des Lügens beibehalten. Lügen ist oft nur ein Symptom dafür, dass etwas in der Beziehung nicht stimmt, dass das Kind seine Situation als nicht gut und nicht mit positiven Mitteln veränderbar erlebt. Wenn ein Kind sich so wenig verstanden und akzeptiert fühlt, kann das später zur Folge haben, dass es auf eine schiefe Bahn gerät. Hätte man die Not erkannt, die hinter dem Lügen in der Kindheit stand, wäre die Entwicklung sehr wahrscheinlich anders gelaufen. Man muss also eher sagen, dass die Bedingungen in der Kindheit, die einen jungen Menschen zur Unehrlichkeit gebracht haben, auch eine spätere kriminelle Entwicklung zur Folge haben können.

Ein nicht unwesentlicher Punkt ist die Frage, wie wir es selber mit der Ehrlichkeit halten. Auch für uns ist es manchmal bequemer, das Kind zu bitten, es möge sagen, die Mami sei nicht da, wenn man gerade nicht ans Telefon oder an die Tür möchte. Es ist einfacher zu behaupten, es seien keine Süßigkeiten im Haus, als sich mit dem Kind auseinander zu setzen, ob es jetzt welche essen darf. Auch das Mogeln mit dem Alter z.B. in Bahnen und Bussen oder bei dem Kauf von Eintrittskarten mag uns Vorteile versprechen. Aber es wird von den Kindern durchaus wahrgenommen und kann sie sogar in Konflikte bringen, wenn sie gefragt werden. Da sollte man sich wirklich fragen, welchen Stellenwert dieser finanzielle Nutzen hat gegenüber dem, was sich in der Kinderseele abspielt!

 Manchmal ist es angenehmer, sich selbst in einem Bericht über eine Situation toller erscheinen zu lassen, und man phantasiert noch einiges zu dem Erlebten hinzu, oder man macht sich interessanter, wenn man etwas Harmloses ganz dramatisch schildert. Wenn unsere Kinder das erleben, wird es ihnen schwer fallen, den Sinn und Nutzen von Wahrhaftigkeit einzusehen. Wir werden unglaubwürdig, wenn wir von ihnen Ehrlichkeit verlangen und sie gar noch strafen, wenn sie nicht die Wahrheit sagen, aber uns selbst darüber hinwegsetzen. Das kann zu keiner guten Entwicklung beim Kind führen! 

Was können wir nun sinnvoll tun, wenn wir dem Lügen begegnen wollen?

Wir sollten

·      unsere Kinder gut beobachten und das Gesagte hinterfragen (ohne dem Kind das Gefühl zu geben, wir vetrauten ihm nicht)

·      Lügen nicht als Bagatelle, aber auch nicht als schwere moralische Verfehlung ansehen und das dem Kind deutlich machen

·      uns fragen, was hinter der Lüge steht, und dem Kind zu helfen versuchen, dass es positivere Wege findet, seine Ziele zu erreichen.

·      Vorbild darin sein, dass wir ehrlich mit anderen umgehen