Individualpsychologische Beratungspraxis (DGIP)

Renate Freund

 

 

Startseite
Grundlagen
Arbeitsbereiche
Biographie
Adresse
Kosten
Vorträge
Aktuelles

 

 

Grenzen setzen ohne Machtkämpfe

Vortrag im Saselhaus am 7. September 2004

 

Einleitung. 1

 

1. Kinder sind Partner 2

 

2. Kinder brauchen Ermutigung. 4

 

3. Machtstreben muss kanalisiert werden. 7

 

4. Grenzen sind notwendige Gerüste zum Reifen. 9

 

Ich fasse zusammen: 11

 

Einleitung

Letzte Woc Letzte Woche erlebte ich in der Spielzeugabteilung eines großen Kaufhauses folgende Szene:

 

Ein Junge - er mag vielleicht vier Jahre alt gewesen sein - hielt ein Spielzeugauto in der Hand und versuchte, seine Mutter zu überreden, dass sie ihm das kaufte. Zunächst ging ja alles noch ganz friedlich zu, doch dann wurde der Junge immer lauter, die Mutter immer nervöser. Schließlich schrie er so laut, dass andere Kunden stehen blieben und die Auseinandersetzung beobachteten: "Ich will aber das Auto! Und du kaufst mir das jetzt!" Die Mutter wollte ihn zur Ruhe bringen und versuchte ihm den Mund zuzuhalten. Der Junge wehrte sich, riss sich los, legte das Auto in den Einkaufswagen, die Mutter tat es wieder heraus. So ging das ein paar mal hin und her, mal mit Geschrei, mal schweigend, aber die Gesichter sprachen Bände. Immer mehr Leute beobachteten die Szene. Eine ältere Frau sagte laut: "Hier braucht wohl einer mal kräftig den Hintern versohlt!" Ein paar Jugendliche grinsten, die Mutter - inzwischen mit hochrotem Kopf - zischte dem Jungen zu: "Das ist das letzte Mal, dass ich dich mit zum Einkaufen genommen habe", ließ das Auto aber schließlich im Einkaufswagen und ging mit dem Jungen weiter Richtung Kasse.

 

Sicherlich kommt vielen von Ihnen diese Szene bekannt vor, entweder als Zuschauer oder auch als Akteur. Begebenheiten, bei denen wir am liebsten aus dem Laden gelaufen wären oder unsere Kinder verleugnet hätten, haben sicher viele von uns schon erlebt.

 

Mir scheint, dieses Erlebnis spiegelt sehr genau, in welcher Schwierigkeit wir uns heute befinden: Den Hintern versohlen - so geht es ja wohl nicht mehr. Das spüren wir deutlich; denn dem liegt eine Beziehungsstruktur zugrunde, die in autoritären Staatsformen gepasst hat, aber doch heute nicht mehr. Der Vater als das Familienoberhaupt konnte befehlen und Strafen verhängen, wenn es nicht nach seinem Willen ging.  Er konnte anordnen, die anderen mussten gehorchen - so war es früher. Zu der Zeit war Erziehen nicht schwer, denn eine Generation lernte von der anderen, wie Eltern mit ihren Kindern umzugehen hatten. Doch schon  unsere Eltern hatte ihre Schwierigkeiten damit. Sie versuchten sich in einer Mischung aus autoritären und partnerschaftlichen Verhaltensweisen, hielten in der Regel aber wohl noch mehr am Alten fest, so dass wir nun vor der Frage stehen: Wie können wir heute unsere Kinder angemessen erziehen, dass sie gut ausgerüstet sind für ein Leben in unserer Gesellschaft, dass sie fröhlich und ohne zuviel Stress heranwachsen und wir mit einander, nicht gegen einander leben.?

 

Seit über 20 Jahren arbeite ich mit Elterngruppen oder Familien an Erziehungsproblemen und nach meiner Erfahrung geht es in diesen Gesprächen sehr häufig um Fragen der Grenzsetzung.

 

Deshalb möchte ich mit Ihnen heute darüber nachdenken, wie man Grenzen setzt ohne in Machtkämpfe zu geraten. Wir spüren, dass wir ohne Grenzen nicht auskommen, empfinden aber gleichzeitig ein Unbehagen, weil das Grenzen setzen so nahe bei autoritären Strukturen liegt, die wir nicht wollen. Wie wir aus diesem Dilemma herauskommen, werde ich versuchen, Ihnen in vier Gedankengängen aufzuzeigen

 

1.      Kinder sind Partner

2.      Kinder brauchen Ermutigung

3.      Machtstreben muss kanalisiert werden

4.      Grenzen sind notwendige Gerüste zum Reifen

 

1. Kinder sind Partner

Alfred Adler - neben Freud und Jung der dritte Urvater der Tiefenpsychologie – hat in seiner Theorie die Gleichwertigkeit aller Menschen als einen der wichtigsten Grundsätze postuliert. Damit redet er nun aber nicht einer Gleichmacherei das Wort. Die unterschiedlichen Rechte und Pflichten von Eltern und Kindern sollen durchaus bleiben, alles andere wäre ja auch sinnlos. Aber er fordert, das wir jeden mit Respekt behandeln, ihn in seiner Persönlichkeit ernst nehmen und in entsprechender Weise mit ihm reden.

 

Lassen Sie mich ein Beispiel erzählen, um deutlich zu machen, was ich damit meine:

Die Mutter hat Fritz schon zum wiederholten Male gesagt: „Du musst bei Rot stehen bleiben und auf das grüne Männchen warten!“ und auch „Du darfst nie ohne zu gucken auf die Straße laufen“. Aber der Junge hält sich einfach nicht daran. Fast neidisch schaut die Mutter auf die Nachbarskinder, denen ein angemessenes Verhalten offenbar völlig selbstverständlich ist.

 

Im Straßenverkehr gibt es Vorschriften und Regel, die einzuhalten sind, will man nicht Gefahr von Leib und Leben riskieren. Es ist außer Frage, dass auch jedes Kind sie lernen und befolgen muss. Wenn wir sie ihm aber auf die eben dargestellte Weise nahe zu bringen versuchen, werden wir es schwer damit haben. Diese diktatorischen Anordnungen („Du musst...!“ „Du darfst nie...!“) klingen in den Ohren des Kindes wie Befehle, weit entfernt von jedem Gedanken an Gleichwertigkeit, und wenn das Kind soviel Druck spürt, wird es dagegen angehen. Hätte die Mutter „wir müssen...“ oder „alle Fußgänger müssen...“ gesagt, wäre das Kind gar nicht auf die Idee gekommen, dagegen anzukämpfen. Bei „wir müssen“ schließt sich die Mutter mit ein und stellt sich gewissermaßen neben das Kind unter dieselbe Regel. So lernt das Kind, dass es für alle Menschen Grenzen gibt und dass auch Erwachsene Vorschriften einhalten müssen. Dadurch ist es dann eher bereit, Regeln zu akzeptieren.

 

Sie merken, wichtig ist die Art und Weise, wie wir mit unseren Kindern umgehen. Unangenehme Dinge wie einen Zahnarztbesuch oder eine Impfung ordnen wir zum Beispiel nicht einfach an, sondern nehmen die Gefühle des Kindes ernst („ich weiß, dass dir das bevorsteht, aber das ist aus den und den Gründen notwendig“) Dann bleiben wir aber dabei, dass bestimmte Maßnahmen sein müssen.

 

Auch älteren Kindern gegenüber sollten wir uns immer wieder die Art unseres Vorgehens kritisch angucken. Dazu wieder ein Beispiel:

Sven (13 Jahre)  ist in sein Zimmer gegangen, um Hausaufgaben zu machen, hat er jedenfalls gesagt. Nach kurzer Zeit tönt von oben so laut die Musik, dass es noch alle Nachbarn hören müssen. Als die Mutter nach oben geht und wütend die Tür aufreißt; denn sie hat ja schon so oft gesagt, dass die Musik nicht so laut sein darf, bietet sich ihr folgendes Bild: Sven liegt auf seinem Bett, um ihn herum sind lauter Bravohefte und Zeitungsausschnitte verstreut, dazwischen seine schmutzigen Socken und Unterhosen sowie ein frisch gebügeltes Hemd. Sein Rucksack mit den Schulsachen ist noch nicht einmal ausgepackt.

 

In solchen Situationen sind schon Musikanlagen aus dem Fenster geflogen oder körperliche Züchtigungen erfolgt, die keine Mutter und kein Vater ursprünglich gewollt haben. Aber dieser für unsere Ohren eher schmerzhafte Lärm, den die Kinder als Musik genießen, wie der Anblick der Wüstenei in dem Zimmer lösen in den Eltern soviel Wut und Hilflosigkeitsgefühle  aus, dass sie so spontan und emotional reagieren. Sie geraten in Sorge, weil sie wissen, dass in der Schule gerade in diesen Jahren noch viel Grundlegendes gelernt werden muss ( viele Schüler fangen in Klasse 6 oder 7 eine zweite Fremdsprache an ). Wenn die Kinder dann nichts tun, fürchten sie (zu Recht), dass Lücken entstehen, die man später nur schwer aufholen kann. Das Chaos im Zimmer war auch schon vielfach Thema von Auseinandersetzungen,  nur – geholfen hat das nicht. Die Mutter ist zudem noch besonders sauer, weil ihre Arbeit ( das frisch gebügelte Hemd ) nicht geachtet wird. Man kann also den Zorn und die Reaktion gut verstehen - nur ändern wird sich dadurch nichts.

 

Wie aber könnte man angemessener und vielleicht auch mit mehr Erfolg mit der Situation umgehen?

 

Zunächst, denke ich, müssen wir an uns selber arbeiten. Gewöhnen Sie sich an, immer erst einmal dreimal tief durchzuatmen, bevor Sie Ihrem Ärger Luft machen! Wenn Sie in scharfem Ton beginnen, wird Ihr Kind nicht anders antworten, und schon sind Sie in einen dicken Streit. Dann aber lohnt es sich nicht mehr, mit Argumenten zu kommen, weil Sohn oder Tochter dafür gar nicht aufnahmebereit ist. Versuchen Sie lieber für einen kurzen Moment die Situation mit den Augen Ihres Kindes zu sehen! Musik muss nach Ansicht der meisten Jugendlichen mit einer bestimmten Phonzahl gehört werden. Sie finden es einfach schön und merken nicht, dass sie andere damit nerven. Wenn ich mir das klarmache, kann ich in einem ganz anderem Ton um die Drosselung der Lautstärke bitten; denn dabei bleibe ich: jeder im Haus muss das Recht auf Ruhe oder den Genuss seiner Musik haben, ohne von einem Familienmitglied so beschallt zu werden, dass man nichts anderes mehr wahrnehmen kann.

 

Das meine ich mit einer gleichwertigen Partnerschaft. Jeder in der Familie hat Rechte, und die Grenzen seiner Möglichkeiten liegen dort, wo er die Rechte des anderen zu verletzen droht. Nun sieht und merkt man diese Grenzen häufig selber nicht (Beispiel: der Jugendlich empfindet seine Musik nicht als zu laut), so dass man darüber reden muss.

 

Wie wichtig es ist, dafür eine Sensibilität zu entwickeln, dass unsere Kinder die eigenen Gefühle ebenso wie die ihres Gegenübers beachten, hat Daniel Golman in seinem viel beachteten Buch  über Emotionale Intelligenz dargelegt. Emotionale Intelligenz beschreibt er als Selbstmanagement und Selbsterfahrung auf der einen Seite sowie auf der anderen Seite Kompetenzen und Fähigkeiten im Umgang mit anderen Menschen , wie z.B. Mitgefühl, Kommunikationsfähigkeit, Menschlichkeit, Takt und Höflichkeit.

Er hält Menschen mit einer hohen emotionalen Intelligenz für beruflich oft sehr erfolgreich, da sie gut mit Menschen umgehen können und über Führungsqualitäten verfügen. Eine emotionale Intelligenz im Alltag ermöglicht es ihnen, gut mit den anderen klar zu kommen sowie  Konflikte konstruktiv zu meistern. Emotional intelligente Menschen können aktiv zuhören und akzeptieren ihre Mitmenschen so wie sie sind. Damit sind sie meist sehr beliebt und pflegen tiefgehende Beziehungen und Freundschaften. Sie sorgen aber auch gut für sich selbst und sind deshalb meist zufrieden und ausgeglichen.

 

Viele Eltern haben diese Fähigkeiten selbst nicht entwickelt und machen deshalb einen  partnerschaftlichen Ansatz zunichte, indem sie in autoritärem Ton Ruhe fordern, ihr Kind wohl möglich noch beschimpfen (Vorwürfe wie „Du bist ein rücksichtsloser Egoist!“, „Du machst mich ganz krank mit deinem Lärm“ oder „Du bist wirklich nicht zum Aushalten!“ sind in solchen Situationen nicht selten). Wichtig wäre aber gerade der angemessene Ton, den wir ja auch von unseren Kindern erwarten. In dem konkreten Fall wäre es vielleicht eine Lösung, wenn die Eltern ihrem Sohn zum nächsten Geburtstag einen guten Kopfhörer schenkten; denn der könnte die Möglichkeit schaffen, den Ansprüchen beider Seiten gerecht zu werden.

 

Partnerschaftliches Miteinander lässt also durchaus zu, dass wir Grenzen setzen. Entscheidend ist dabei aber zum einen der Ton, in dem wie Forderungen stellen, und zum anderen die Unterscheidung von Tat und Täter, wie Adler es nennt. Nicht das Kind ist nicht auszuhalten, sondern seine Musik. Nicht das Kind ist egoistisch, sondern sein Verhalten. Wenn ein Kind sich grundsätzlich angenommen, respektiert und geliebt fühlt, geht es mit Forderungen oder Grenzen ganz anders um als wenn es sich ständig unterdrückt fühlt und meint, beweisen zu müssen, wie viel  Macht es hat.

2. Kinder brauchen Ermutigung

 

Ermutigung ist auch ein Begriff aus der Adlerschen Individualpsychologie. Ich hätte auch sagen können: ein gut entwickeltes Selbstwertgefühl oder Selbstbewusstsein. Wie aber kann man das erreichen? Hier müssen wir uns zunächst einmal klar machen, dass in jedem Menschen ein Grundbedürfnis nach  Beachtung und dem Gefühl von Zugehörigkeit zu einer Gemeinschaft besteht. Immer wieder wird ein Kind um seinen Platz in der Familie, in der Gruppe oder Klasse kämpfen. Das ist auch eine Erklärung dafür, warum unsere Kinder so unterschiedlich sind. Schon das ganz kleine Kind probiert (ihm natürlich völlig unbewusst)Verhaltensweisen aus. Wenn sie ihm den gewünschten Erfolg bringen, wird es sie immer wieder einsetzen, wenn nicht wird es andere suchen. Ist in einer Familie der Platz des zielstrebigen, verantwortlichen Arbeiters schon besetzt, so wird das zweite Kind vielleicht dasjenige, das die Schule zu leicht nimmt, sich dafür aber im Sport hervortut. Neben einem besonders lauten Kind sucht sich der Schweiger seinen Platz in der Familie. Eines findet Beachtung durch seine zur Schau gestellte Hilflosigkeit, ein anderes durch seine Schlagfertigkeit oder sein praktisches Geschick.

 

Es ist für uns Eltern hilfreich zu erkennen, durch welches Verhaltensmuster unser Kind sich immer wieder in Szene setzt. Beachtung kann man nämlich auch auf der negativen Schiene erreichen, und dann wissen wir, dass es nicht so weit her ist mit dem Selbstbewusstsein von Sohn oder Tochter.

 

Ich kann mich noch gut an Szenen mit den eigenen Kindern erinnern. Wenn es ans Aufräumen ging, fing der Älteste bereitwillig an, während der zweite Sohn ständig ermahnt werden musste, bis ich mir einmal klar machte, wie viel Aufmerksamkeit er durch seine Verweigerung bekam. Also beschloss ich einen anderen Weg: Ich legte mit den Kindern fest, dass der eine die Autos, der andere die Legostein einzuräumen hatte. Wer damit fertig war, durfte die Sesamstraße gucken. Ermahnungen zum Aufräumen gab es fortan nicht mehr. Die waren auch nicht nötig, nachdem Matthias zweimal das Fernsehen verpasst hatte. Übrigens ist es hier wichtig, die eigenen Regeln strikt einzuhalten und sich nicht durch „Wasserkraft“ – die Tränen unserer Kinder-  umstimmen zu lassen, sonst werden wir bei ähnlichen Gelegenheiten immer zu kämpfen haben, dass unser Ja ein Ja und das Nein ein Nein bleiben.

 

Gut, nun war die Aufräumfrage geklärt. Aber wenn ein Kind sich so auf der negativen Schiene um Beachtung bemüht, sollte wir uns fragen, was wir tun können, damit das Kind mehr Selbstbewusstsein entwickelt. In unserem Falle waren das damals einige Unternehmungen, die der Sohn allein mit einem Elternteil machen durfte. Vielleicht aber hat man seinem Kind nur nicht deutlich genug gezeigt, wie lieb man es hat, oder war zu sehr mit eigenen Dingen beschäftigt, dass sich das Kind zu wenig beachtet fühlte.

 

„Das Schlimmste, was man seinem Kind antun kann, ist die Verwöhnung“ hat Adler einmal gesagt. Ich weiß noch genau: Als ich das zum ersten Mal hörte, kamen mir gleich die von den Eltern vernachlässigten Kinder in den Sinn und ich dachte, sie hätten das traurigere Los. Aber diese finden oft außerhalb der Familie jemanden, der sich um sie kümmert, eine Nachbarin etwa oder einen verständnisvollen Lehrer. Übermäßig verwöhnte Kinder hingegen haben es da viel schwerer.

 

An einem Beispiel wird es uns vielleicht deutlich:

Die Eltern von Rolf haben durch den Beruf des Vaters viele gesellschaftliche Verpflichtungen und sind deshalb häufig unterwegs oder haben Gäste. Damit Rolf nicht traurig ist, haben die Eltern ein Videogerät angeschafft, und Rolf darf sich jedes mal einen oder mehrere Filme ansehen, wenn keiner Zeit für ihn hat. Das Kinderzimmer ist außerdem voll mit interessantem Spielzeug, und Freunde darf er sich auch einladen, sooft er möchte. Dazu hat Rolf meistens keine Lust. Er fühlt sich unsicher; denn er ist es nicht gewohnt, sich mit anderen auseinander zu setzen. Wenn seine Mutter dann doch einmal für Rolf Zeit hat, möchte sie ihn für die anderen Zeiten entschädigen und ist deshalb bereit auf alle seine Wünsche und Forderungen einzugehen. Sie kauft ihm, was er möchte, lässt sich kommandieren, schreibt auch schon mal eine Entschuldigung, wenn Rolf nicht in die Schule möchte usw.

 

Alle materiellen Dinge täuschen Rolf nicht darüber hinweg, dass eigentlich nie jemand für ihn Zeit hat. Er spürt: Irgendwie ist es ja ein gutes Gefühl, wenn ich Mama herumkommandieren kann. Aber trotzdem - keiner hat ein echtes Interesse an mir. Also bin ich auch nichts wert. Das kann so weit gehen, dass er sich fragt: Wofür lebe ich eigentlich?

 

Vielleicht liegt hier ein Grund, warum überdurchschnittlich viele Jugendliche aus sogenannten "guten Häusern" sich in der Drogenszene oder zumindest in ausgeflippten oder extremen Gruppen finden. Sie suchen die Gemeinschaft, wollen dazugehören, sein wie die anderen, und sei es ebenso betrunken oder im Drogenrausch wie die Freunde. Manche werden in der linken oder rechten Szene geradezu militant, um (unbewusst) gegen all die Verletzungen zu kämpfen, die sie in ihrer Kindheit durch das Verhalten der Eltern gespürt haben. Weil niemand da war, der dem kleinen Kind die Fragen beantwortet oder die Umwelt erklärt hätte, steht neben dem Gefühl der Minderwertigkeit das der Unsicherheit und Angst, die man aber auf keinen Fall zeigen möchte. Weil ihm vieles so bedrohlich erscheint, wird es selbst aggressiv und (vielleicht) gewalttätig; denn Angriff war schon immer die beste Verteidigung.

 

Was hätte anders laufen müssen? Wenig Zeit für ein Kind ist noch keine Katastrophe, keine Zeit dagegen schon. Wenn Eltern ihre geringe Zeit wirklich nutzen zu Gesprächen und gemeinsamen Unternehmungen, wenn sie hier dem Kind zeigen: Du bist uns wichtig. Aber wir stecken in Zwängen, aus denen wir nicht herauskönnen (Beruf). Wir suchen gemeinsam nach einer Lösung, zum Beispiel einer Ersatzbezugsperson, wenn sie das Kind einbeziehen in Überlegungen, wie man das beste aus der Situation macht, wird es sich ganz anders entwickeln können. Übrigens kenne ich auch Fälle, dass eine Hausfrau, die den ganzen Tag mit dem Kind zuhause ist, sich so auf die Versorgung von Familie, Haus und Garten fixiert, dass das Kind nur nebenher läuft und sich als unwichtig oder gar störend erleben muss. Dann lieber Berufstätigkeit und ein paar intensive Stunden mit dem Kind!

 

In abgeschwächter Form gilt vieles über Rolf und seine Eltern Gesagte für Familien, in denen beide Eltern berufstätig sind, oder für Alleinerziehende, die Geld verdienen müssen. Viele (besonders) Mütter möchten ihre Zeit der Abwesenheit dadurch ausgleichen, dass sie etwas nachsichtiger sind und die Kinder mehr als nötig bedienen. Wenigstens das sollen die Kinder dann von der Berufstätigkeit haben. Bleibt es im Rahmen, ist dagegen auch nichts einzuwenden (Warum soll ein Kind den Besuch in der Eisdiele oder den besonderen Urlaub nicht erleben als Frucht der mütterlichen Arbeit?). Das Kind darf dadurch jedoch nicht in die Situation kommen, die ich oben beschrieb, nämlich sein Selbstwertgefühl nur daraus zu ziehen, dass es soviel von der Mutter fordern kann. Auf der anderen Seite halte ich eine Berufstätigkeit der Mutter für eine große Chance, dem Kind ein Gefühl von Wichtigkeit und Partnerschaft zu vermitteln. Es sieht ein, dass es bestimmte Dinge allein bewältigen muss und kann stolz sein, damit klar zu kommen, sei es den Schlüssel nicht zu verlieren, eine Weile allein zu Hause zu sein, einmal ein Essen aufzuwärmen usw.. Einer berufstätigen Mutter helfen die Kinder in der Regel viel bereitwilliger, weil sie die Notwendigkeit eher einsehen und spüren, dass sie gebraucht werden.

 

Manche Eltern verstecken hinter der Fürsorglichkeit für ihr Kind ein eigenes Minderwertigkeitsgefühl. Es hat viel mit ihnen selber zu tun, wenn sie das Bedürfnis haben, den Kindern immer wieder zu zeigen, wie gut sie sind, indem sie z.B. den Kindern Dinge vormalen, ihre Bastelarbeiten noch einmal nachschneiden (wohlmöglich noch mit den Worten "Findest du nicht auch, dass es jetzt noch viel schöner aussieht?") oder immer wieder betonen: "Das ist noch zu schwer für dich. Dafür bist du noch zu klein. Lass mich das lieber machen!" Bitten Sie Ihren Partner, Ihnen solches Verhalten deutlich zu machen, weil es Ihnen wahrscheinlich gar nicht bewusst wird! Wir schleppen schließlich unsere Defizite aus unserer Kindheit auch noch mit uns herum, schaden aber damit unseren Kindern, ohne es zu wollen.

 

Inzwischen sind wir schon bei Wegen, wie wir das Selbstwertgefühl unserer Kinder stärken können. Dazu gehört, sich mit ihnen über jedes neue Bemühen, jeden Schritt in die Selbstständigkeit, jeden Erfolg zu freuen. Wenn etwas (noch) nicht gelingt, sollten wir die Kinder immer wieder zu neuen Versuchen ermuntern und ihnen verdeutlichen, dass auch wir auf diese Weise viele Dinge gelernt haben. Dann kann ein Kind sich eher zugestehen, Fehler zu machen, ohne sich deshalb gleich für wertlos zu halten. Hier helfen uns wieder Formulierungen wie "Alle haben damit anfangs Schwierigkeiten" oder "meine Mutter hat mir früher beigebracht..."( statt: "Das musst du so machen").

 

Es ist nicht mangelnde Fürsorge, wenn Sie Ihre heranwachsenden Kinder immer mehr dazu bringen, die eigenen Dinge selbst zu regeln. Lasse Sie sie ihre Termine beim Zahnarzt oder  Kieferorthopäden alleine ausmachen, den Personalausweis selber beantragen, ein Konto einrichten u.ä. Bewährt hat sich auch ein Kleiderkonto etwa ab 14 Jahren, von dem sich das Kind  seine Sachen selber kauft. Jeder gewagte und bewältigte Schritt in die Selbstständigkeit schafft ein Stück Selbstwertgefühl.

 

Wichtig ist auch, dass wir Eltern eigene Fehler oder Irrtümer zugeben und uns gegebenenfalls dafür entschuldigen.

3. Machtstreben muss kanalisiert werden

 

Nach Machtausübung klingen nicht nur gut gemeinte elterliche Erziehungsregeln, wenn man sie in Befehlsform kleidet, sondern das Streben nach Macht nimmt einen großen Raum ein im Zusammenleben von Menschen überhaupt. Alfred Adler sieht darin einen wichtigen Grundtrieb (wichtiger als den Sexualtrieb, den Sigmund Freud für den wichtigsten hielt) neben dem Bestreben nach Zugehörigkeit, was ich ja bereits anfangs erwähnte. Warum kämpfen so viele Eltern und Kinder miteinander? Warum wird überhaupt das Zusammensein der Menschen vielfach dadurch bestimmt, dass einer den anderen überflügeln, beherrschen will?

 

Vielleicht erinnern Sie sich an die eingangs erwähnte Szene im Kaufhaus. Sie ist ein Beispiel dafür, wie sich viele Machtkämpfe in der Familie abspielen. Eltern sprechen eine eher unbedeutende Forderung oder ein Verbot aus, das Kind widersetzt sich, die Forderung wird verstärkt, der Ton wird schärfer. Immer heftiger und erbitterter werden die Wortwechsel und enden oft damit, dass das Kind weint und tobt, während Vater oder Mutter lauter und lauter oder sogar handgreiflich werden.

 

Müssen wir nun diese Machtkämpfe hinnehmen, wenn wir von Adlers These ausgehen, dass Machtstreben ein grundsätzliches Attribut des Menschen ist? Ich meine nicht. Was wir aber akzeptieren sollen, ist, dass unser Kind nach Überlegenheit strebt. Es wird immer dann kämpfen, wenn es sich in einer unterlegenen Position fühlt, und darauf aus sein, selber „der Bestimmer“ zu sein. Unsere Kinder brauchen also das Gefühl, Macht zu haben. Erst wenn sie erfahren, dass sie auch entscheiden dürfen und ihre Meinung den Eltern wichtig ist, brauchen sie nicht mehr um alles und jedes zu kämpfen. Das erleben wir ja nicht nur bei Eltern und Kindern, sondern ebenso in der großen Politik. (Ich denke an Hartz 4) Für eine notwendige Maßnahme zur Umstrukturierung unseres Sozialsystems wird nicht etwa in der Bevölkerung geduldig und ausführlich um Zustimmung oder zumindest Einsicht in die Notwendigkeit geworben, sondern der Kanzler sagt : „Basta!“ Ich bin überzeugt davon, dass der Protest in der Öffentlichkeit weitaus geringer ausgefallen wäre, wenn der Bürger sich nicht so ohnmächtig fühlte.

 

 Unsere Lebenserfahrung bedingt, dass wir häufig Entscheidungen treffen, weil das Kind Situationen nicht übersehen und Folgen nicht ermessen kann. Wenn wir dann nicht auf die Art und Weise achten, wie wir mit unseren Kindern reden, entsteht ganz schnell ein Machtkampf.

 

Was ich mit unangemessener Rede meine, soll ein Beispiel zeigen:

 

 „Also, dass Mama hier alles allein macht, finde ich unmöglich!“ poltert der Vater beim Abendessen, „ihr liegt auf euren Betten, und sie macht Essen, räumt die Küche auf und deckt den Tisch. Wenn es ans Abräumen geht, seid ihr verschwunden, ehe man euch auch nur sagen kann, dass ihr gefälligst euer Geschirr in die Spürmaschine tragen sollt. So geht das nicht! In dieser Woche deckt Katrin den Tisch, und du, Fritz, räumst die Spülmaschine ein!“

„Das geht nicht,“ wendet Katrin ein, „montags und mittwochs bin ich beim Babysitten, donnerstags beim Sport.“ „Und ich will „Gute Zeiten- schlechte Zeiten gucken, das wisst ihr genau!“ fällt ihr Fritz ins Wort. „Außerdem – warum hilfst du ihr denn nicht?“ fragt Katrin herausfordernd, „um die Zeit bist du doch auch zu Hause!“ Hier geht der Vater an die Decke: „Ich? Ich hab den ganzen Tag für euch geschuftet. Das ist doch die Höhe! Nee, meine Dame, so nicht!“

 

Den Rest der Unterhaltung mag jeder sich selbst ausmalen. Ende vom Lied ist jedenfalls, dass die Mutter wieder mit allem allein dasteht. Dabei hat der Vater genau das Richtige gewollt, nämlich eine gemeinsame Verantwortung für den Haushalt. Sicher wären  die Kinder dazu auch bereit gewesen, wenn sie zusammen mit den Eltern nach einem  Lösungsvorschlag gesucht hätten.

 

Machtkämpfe können aber auch ganz leise vor sich gehen und sind dann viel schwerer zu erkennen. Vielleicht kommt Ihnen diese Szene bekannt vor?!:

 

Jeden Tag vor dem Kindergarten gibt es einen Kampf zwischen Jan und seiner Mutter, wenn es darum geht, sich abmarschbereit zu machen. „Das kann ich ganz alleine!“ beharrt Jan, als die Mutter ihm helfen will, und dann beginnt er in einer Seelenruhe die Schuhbänder zu Schleifen zu binden, sie wieder zu öffnen, den Schuh noch mal auszuziehen mit den Worten „Da ist was drin!“, ihn auszuschütteln und wieder anzuziehen. Ermahnungen der Mutter weist er zurück und sagt: „Ich zieh´ mich doch an.“ Die Zeit vergeht, die Mutter wird immer ungeduldiger, das Ende der Episode können wir uns alle vorstellen.

 

Ich denke, es ist deutlich geworden: Kämpfen, seine Eltern auf die Palme bringen, kann man auch auf diese Art. Trödeln ist ebenso ein Machtmittel, wie das Sich-Widersetzen. Wie hätte die Mutter die Situation entschärfen können? Sie sollte nicht warten, bis sie kurz vor dem Explodieren ist, sondern in einer entspannten Atmosphäre am Abend vorher mit dem Sohn reden. Da kann sie dem Kind eine Zeit setzen. „Wenn der Uhrzeiger dort steht, müssen wir los, sonst bist du zu spät dran (oder ich komme anschließend zu spät zur Arbeit, das Geschwisterkind zu spät zur Schule...). Dann nehmen wir deine Kleidung mit, und du kannst dich im Auto fertig anziehen.“ Hier macht wieder der Ton die Musik. Klingt das Ganze wie eine Drohung, wird sich Jan auch weiterhin nicht beeilen, schließlich will er ja Sieger sein. Wenn das Vorhaben jedoch klar und sachlich mitgeteilt wird, spürt Jan, dass seine Mutter nicht bereit ist, an dieser Stelle mit ihm in einen Machtkampf einzutreten. Dann wird er sich mehr beeilen. Wichtig ist, dass wir Ankündigungen auch in die Tat umsetzen, und das heißt, es dürfen nur solche Vorhaben angekündigt werden, die auch realistisch sind. „Dann fahre ich, und du musst allein zuhause bleiben“, hätte die Mutter vermutlich nicht umzusetzen gewagt, also darf eine solche Äußerung auch nicht fallen!

 

Weiter sollte sich die Mutter fragen, warum es Jan wohl nötig hat, ihre Aufmerksamkeit durch dieses negative Verhalten einzufordern. Beachtet sie ihn sonst zu wenig (wobei „viel“ und „wenig“ hier sehr subjektive Begriffe sind, die von Eltern und Kind durchaus völlig gegensätzlich gefüllt werden können!). Ist sie zuviel mit ihrer Arbeit beschäftigt? Nimmt ein Geschwisterkind sie zu sehr in Beschlag? Ist sie zwar anwesend, aber mit ihren Gedanken schon nicht mehr zu Hause? Wo kann sie Jan im Laufe des Tages mehr Aufmerksamkeit geben, damit er sie nicht morgens vor dem Kindergarten durch sein Trödeln erzwingt? Wie kann sie ihm zeigen, dass auch er bestimmen darf und seine Meinung ernst genommen wird?

 

Eine weitere leise Methode der Machtausübung ist die Demonstration der Unfähigkeit. „Das kann ich nicht!“ bei jeder Forderung klingt lieb und eher mitleiderregend, kann aber auch ein Weg sein, um den Eltern zu zeigen: „Du kannst ruhig etwas von mir fordern, ich mache es trotzdem nicht, auch wenn du es mir noch dreimal zeigst oder erklärst. Ich will dich in meinen Dienst zwingen.“ Hier ist es ganz wichtig, sein Kind besonders genau zu beobachten; denn man täte ihm bitteres Unrecht, wenn man immer wieder Dinge von ihm forderte, die es nicht zu leisten vermag. Dann sollten die Eltern natürlich ermutigen und zu immer neuen Versuchen anregen. Weiß man jedoch aus anderen Beobachtungen, dass das Kind sehr wohl sein Zimmer aufräumen, die Schuhe zubinden, das Brot streichen kann usw., dann sollten Sie sein Jammern nicht akzeptieren. Hat es nämlich erst diese Methode zu seiner Masche gemacht, wird es z.B. in der Schule nicht seinen Fähigkeiten entsprechend lernen, sondern auch da immer den Hilflosen spielen.

 

Für die Weise, wie man aus einem solchen Machtkampf aussteigt, gibt es nun kein Patentrezept, weil die Situationen so unterschiedlich sein können, in denen das Kind diese Strategie anwendet. Aber die Eltern sollten immerhin abwägen, ob es die Möglichkeit gibt, dann auch ihrerseits die Dinge nicht zu tun. Wenn Sandra ihr Brot nicht streichen kann, muss sie eben trockenes Brot essen. Wenn Paul den Saft nicht aus dem Keller holen kann, gibt es eben Wasser usw.. Entscheidend ist wiederum, mit welchen Worten wir reagieren. Hört das Kind ein unausgesprochenes „Ätsch!“, wird es eine neue Runde im Machtkampf suchen.

4. Grenzen sind notwendige Gerüste zum Reifen

 

In den 60iger Jahren gab es Ansätze einer antiautoritären Erziehung. Kinder sollten mit möglichst geringen Einschränkungen aufwachsen, eigene Regeln entwickeln, so früh wie möglich Selbständigkeit, Kritikfähigkeit und Kreativität lernen.  Eigentlich sollte sich die antiautoritäre Erziehung nicht, wie man oft meinte, gegen jegliche Autorität richten, sondern nur gegen die unnötige Unterdrückung der freien und natürlichen Selbstentfaltung des Kindes. Aber viele Eltern und Erzieher  machten daraus ein Gewähren lassen ohne jegliche Einflussnahme. Untersuchungen haben gezeigt, dass die Kinder mit dieser Situation überfordert waren und förmlich nach Grenzen schrieen, um sich orientieren zu können. Die antiautoritäre Erziehung von einst hat insofern einen schalen Nachgeschmack hinterlassen als kleine Engelchen sich zu rücksichtslosen Egoisten entwickelten.

Kinder brauchen also Grenzen, aber auf der Basis des vorher Gesagten. Wir reden mit ihnen wie mit unseren Freunden, wir lassen uns nicht auf Machtkämpfe ein und erklären ihnen unsere Entscheidungen. Zudem geben ihnen viel Freiraum, eigenen Erfahrungen zu machen, aus denen sie oft mehr lernen als aus unseren Ermahnungen, bestätigen sie bei positiven  Leistungen und freuen uns mit ihnen über Erfolge.

Noch bis vor etwa 20 Jahren war das Setzen von Grenzen bei  jüngeren Kindern (abgesehen von der ersten Trotzphase) relativ unproblematisch. In allen alten Bücher über Entwicklungspsychologie können Sie nachlesen, dass die Zeit nach dem ersten Trotzalter bis zum Eintritt in die Vorpubertät, die so genannte Großkindphase, wenig spannungsreich ist – eine Zeit zum Erholen, während ich heute von Eltern genau das Gegenteil höre. Die Kinder sind aufmüpfig, wollen sich nichts sagen lassen und hinterfragen und kritisieren alles. Meiner Meinung nach ist das eine Folge unserer Erziehung. Wir ermuntern die Kinder ja zu einer eigenen Meinung und wollen Kritik. Aber gerade in diesem Alter können Kinder häufig die Folgen ihrer Handlungen noch nicht übersehen und brauchen darum einen Rahmen von uns.  Wie also gehen wir mit dieser Situation um?

 

Dazu wieder ein Beispiel:

Benjamin (12) möchte eine Fete feiern. Dazu will er 10 Jungen und 10 Mädchen aus seiner Klasse einladen. „Zu trinken soll es Cola und alkoholfreies Bier geben! Und du könntest uns ja ein paar Salate machen und Frikadellen, vielleicht auch Pizza. Knabberzeug brauchen wir natürlich auch. 'Ne gute Anlage haben wir ja, und CDs krieg' ich sicher von meinen Freunden!“  „Nun mal halblang!“ unterbricht ihn die Mutter, „wieso willst du eine Fete geben? Du hast doch gar nicht Geburtstag oder sonst einen Grund zum Feiern! Und dann deine Forderungen! Du bist wohl übergeschnappt!“ „Nie darf ich was! Wenn dich Julia (seine Schwester) gefragt hätte, wäre das ganz anders gelaufen. Die hätte bestimmt gedurft, aber ich darf ja nie was!“

 

So weit das Beispiel.

Wenn wir jetzt Überlegungen anstellen, wie die Mutter reagiert, müssen wir folgendes bedenken: Wir können vermuten dass Benjamin seine Mutter an einer sehr empfindlichen Stelle getroffen hat mit seinem Vorwurf, sie erlaube der Tochter alles, ihm aber nichts (was im Klartext heißt, sie sei ungerecht, und gerade darauf hat die Mutter ja nun immer peinlich genau geachtet, weil sie wirklich keinen vorziehen möchte und keinem das Gefühl geben will, das geliebtere Kind zu sein). Wenn Sie einmal verstärkt Ihr Augenmerk darauf legen, werden Sie feststellen, dass uns die Kinder häufig an so einem wunden Punkt zu treffen versuchen, wenn es darum geht, dass die Eltern etwas erlauben sollen.

 

Zu unserem Beispiel können wir uns zwei ganz unterschiedliche Weisen vorstellen, wie die Mutter reagiert: Entweder  ist sie so wütend über Benjamins Äußerung, dass sie gar nicht mehr über die Fete redet, sondern sich über seine Unverschämtheit auslässt, dass er sie unberechtigt als ungerecht hingestellt hat, oder sie möchte den Vorwurf entkräften, indem sie Benjamin beweist, dass er sehr wohl auch etwas darf. Dann hätte er sein Ziel erreicht.

 

Aber nun geht es weiter; denn Benjamins Forderungen sind nicht gerade gering. Bevor darüber Ärger in ihr aufsteigt, möge die Mutter sich klar machen, dass schlicht und einfach Unsicherheit dahinter stecken kann. Benjamin möchte natürlich, dass alle seine Fete toll finden. Also wünscht er sich, dass das auch das Beste und Meiste aufgetischt wird.

 

Die Mutter muss ein solches Ansinnen nicht sofort entscheiden. Es ist sogar besser, dass sie sich Bedenkzeit ausbittet und erst nach eingehender Überlegung ihren Entschluss mitteilt als wenn sie jetzt „nein“ sagt, weil sie sich überfahren fühlt, aber nach längerer Überlegung (oder Überredung) sich doch zu einer Erlaubnis entschließt. Wenn das nämlich häufiger passiert, kann es in dem Kind die Erfahrung manifestieren: Man muss nur lange genug reden, damit aus dem „Nein“ ein „Ja“ wird oder umgekehrt.

 

Wenn die Mutter eine Fete zu diesem Zeitpunkt für unangebracht hält und sich auch durch Argumente (nicht Unterstellungen wie „Julia darf immer alles!“) nicht überzeugen lässt, soll sie das Benjamin ruhig mitteilen und ihn gegebenenfalls auf einen anderen Zeitpunkt vertrösten. Ist sie aber bereit (bzw. sind es beide Elternteile!), sollte sie mit Benjamin alle Einzelheiten besprechen und ihm die Verantwortung für die Fete überlassen, d.h. er übernimmt alle Aufgaben, die er selbst bewältigen kann.

 

Findet dann die Fete  statt, sollten  Sie sich nicht scheuen, auch den fremden Kindern freundlich, aber bestimmt Grenzen zu setzen.

  • Bier, auch alkoholfreies, hat bei 13-jährigen nichts zu suchen
  • Wenn im Keller gefeiert wird, müssen nicht alle durch das ganze Haus laufen.
  • Wenn in der Nachbarschaft kleine Kinder schlafen sollen, kann die Musik eben nur eine gewisse Lautstärke haben.
  • Wenn das Essen plötzlich als Wurfgeschoss verwendet wird, scheuen Sie sich nicht, dieses zu unterbinden
  • Wenn plötzlich bei den Zwölfjährigen Alkohol auftaucht, kassieren Sie ihn ein.

 

Je sicherer Sie dieses tun, freundlich, aber unmissverständlich, desto selbstverständlicher werden die jungen Leute die Grenzen akzeptieren.

 

Es ist eine Binsenweisheit, dass unsere Kinder älter werden und sich weiterentwickeln. Aber ich betone das hier so besonders, weil viele Eltern dies nicht hinreichend berücksichtigen bei ihren Entscheidungen. In der Erziehung gibt es unendlich viele Regeln, die immer wieder neu durchdacht und modifiziert werden müssen. Da gilt es, sein Kind sehr genau zu beobachten und immer wieder neu zu fragen, was wir ihm in die eigene Verantwortung übergeben können und wo wir noch Grenzen aufzeigen müssen.

 

Besonders schwierig ist das natürlich in der Pubertät, der Lebensphase mit den größten Umbrüchen (abgesehen von der Neugeborenenzeit). Unsere Töchter und Söhne sind keine

Kinder mehr, aber auch noch keine Erwachsene. Die Hormone machen ihnen zu schaffen, Neuorientierung ist angesagt. Wichtig und notwendig ist in dieser Zeit die Ablösung von den Eltern, und das geht in den meisten Fällen nur mit heftigen Auseinandersetzungen. Dabei gilt noch mehr als in den früheren Jahren: Nicht zuviel reden, lieber handeln! Adler hat den Begriff der „Muttertaubheit“ geprägt, damit meint er, dass unsere Kinder einfach abschalten, wenn wir ihnen immer wieder die gleichen Standpauken halten, und wir nur die Beziehung weiter belasten, anstatt Situationen zu verändern. Erst wenn der Jugendliche spürt, dass sein Verhalten Folgen hat, wird er sich zur Veränderung entschließen.

 

Wichtig ist es, miteinander im Gespräch zu bleiben und immer wieder darauf zu horchen, was hinter den Worten unserer Kinder steht. Unverschämtheiten sollten Sie einerseits nicht einfach hinnehmen, aber anderseits sich bemühen (und ich weiß, wie schwer das ist!) sie nicht persönlich zu nehmen. Ihr Kind drückt in diesem Augenblick mehr sein Uneinssein mit sich selber aus als dass es das wirklich meint, was es Ihnen da an den Kopf wirft. Gerade in dieser Phase sind unsere Kinder sehr auf unser Wohlwollen angewiesen.

Ich fasse zusammen:

  • Das Setzen von Grenzen ist notwendig für eine gesunde Entwicklung von Kindern und Jugendlichen.
  • Von entscheidender Bedeutung dabei ist die Art und Weise, wie dies geschieht.
  • Wenn wir uns an die Seite unseres Kindes stellen und ihm zeigen, dass jeder in der Familie Rechte und Pflichten hat, wird es ihm leichter fallen, Grenzen zu akzeptieren.
  • Die Entwicklung unserer Kinder macht es erforderlich, Grenzen zu verändern und immer neu zu bestimmen.

 

Zum Schluss möchte ich Ihnen noch mit auf den Weg geben: Freuen Sie sich an allen guten Tagen mit den Kindern. In schwierigen Zeiten gibt es auch immer kleine Lichtblicke. Nach denen sollten Sie Ausschau halten und darüber mit den Kindern ins Gespräch kommen. Es lohnt sich!