Individualpsychologische Beratungspraxis (DGIP)

Renate Freund

 

 

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Vortrag in der Kirchengemeinde Sasel, Lukaskirche

 Aus einer Familie und doch so verschieden

Die Bedeutung der Stellung in der Geschwisterreihe für die Entwicklung eines Kindes

 

Ich vermute, dass Sie hierher gekommen sind und angesichts des Themas Ihre vielleicht recht unterschiedlichen Kinder im Kopf haben. Doch ich möchte Sie bitten, zunächst einmal daran zu denken, welches Kind in der Geschwisterreihe Sie selber sind. Möglicherweise gibt es dann für Sie nicht nur neue Erkenntnisse im Blick auf Ihre Kinder, sondern auch auf die Beziehungen und Verhaltensweisen in Ihrer Herkunftsfamilie. Aber nicht nur das. Wir tragen auch viele Erfahrungen in uns, die mit unserer eigenen Position in  der Geschwisterreihe zusammenhängen. Vielleicht haben Sie sich als Kind von Ihrem großen Bruder genervt gefühlt, der immer alles besser wusste? Oder war es eher die kleine Schwester, der die Eltern viel mehr nachsahen? Wenn Sie solche Verhaltensweisen, unter denen Sie früher gelitten haben, an Ihren Kindern beobachten, werden Sie auf diese vermutlich viel heftiger reagieren; denn da steigen plötzlich Ihre negativen Gefühle aus dem Unbewussten wieder auf und spielen in Ihrem Verhalten eine Rolle.

Im Rückblick auf Ihre Kindheit ebenso wie  angesichts der eigenen Kinder stellen viele sicher fest, wie verschieden Geschwister aus einer Familie sei können. Man sucht nach Erbmerkmalen und findet vielleicht dadurch auch Belege, warum ein Kind lebhafter, das andere ruhiger und das dritte noch wieder anders ist. "Genau wie deine Mutter!", "Das hat er (oder sie) aber von dir!" - solche und ähnliche Aussprüche fallen dann. Doch ich meine, damit trifft man nicht den Kern.

Lassen Sie mich das an einem Beispiel deutlich machen:

Die Mutter geht mit ihren beiden Söhnen eine alte Freundin besuchen, die neuerdings wieder in ihrer Stadt wohnt. Vom Erzählen ist sie den Kindern ein Begriff, aber heute sehen sie sie zum ersten Mal. Während Björn, der jüngere, unbefangen auf sie zugeht und ihr von der Feuerwehr erzählt, die sie gerade unterwegs mit Blaulicht vorbeifahren gesehen haben, steht Lars dicht bei der Mutter und flüstert nur ein kaum verstehbares „Guten Tag". Obwohl die Frau sich mehrfach ihm zuwendet und ihn etwas fragt, bleibt Lars einsilbig und verschlossen, während Björn mit seinem Reden immer wieder im Mittelpunkt steht. „So ist es immer," sagt die Mutter und erzählt ihrer Freundin lauter Begebenheiten, die ähnlich abgelaufen sind wie diese heute. Dann wendet sie sich wieder Lars zu: “Warum kannst du denn nicht endlich auch mal den Mund aufmachen!? Hier tut dir doch niemand etwas!“ Aber Lars schweigt.

Weshalb wohl? Was geht in diesem Jungen vor? Zuhause hat er ein großes Mundwerk, reden kann er also. Doch warum tut er es nicht? Wer bei meinem letzten Vortrag war, kann sich die Antwort vielleicht schon denken. Sie hängt mit der These zusammen, dass grundsätzlich jedes Kind nach einem festen Platz in der Familie strebt, auf dem es sich dazugehörig fühlen und genug Beachtung bekommen kann. Lars hat irgendwann gespürt: Der Platz des Freundlichen, Zugewandten, der viel redet, ist durch den Bruder „besetzt". Also brauche ich einen anderen Weg, um Beachtung zu finden, und wurde zu dem Schweiger. Und wir haben gesehen: Er hat damit ja tatsächlich sein unbewusstes Ziel erreicht. Die fremde Frau wendet sich ihm mehrfach zu, um ihn doch noch zum Reden zu bringen. Die Mutter nimmt ihn als Gesprächsstoff. Er redet zwar nicht, aber man redet mit und über ihn.

Was können wir nun allgemein aus diesem Beispiel lernen?

Unser Verhalten hat eine zentrale Bedeutung dafür, welche Strategien ein Kind sich aus der Fülle von Möglichkeiten wählt, um sich seinen Platz in der Familie zu sichern.. Wenn das Kind durch sein Verhalten Beachtung erfährt (das ist ja die einfachste Form von Zuwendung), wird es immer wieder so handeln wenn nicht, wird es neue Verhaltensmuster ausprobieren und diejenigen beibehalten, die in seinen Augen erfolgreich waren. Das geschieht natürlich alles völlig unbewusst.

So wie in dem Beispiel Lars mit seinem Schweigen Beachtung erfahren hat, so machen wir leider auch oft auch Krankheiten oder Verhaltensauffälligkeiten zum Gesprächsstoff. Das ist mir einmal sehr deutlich geworden bei einer Nachbarin, deren Tochter an Neurodermitis litt, dieser juckenden Hauterkrankung. Die Mutter war so besorgt, dass sie zu allen möglichen Leuten im Beisein des Mädchens über deren Erkrankung sprach. Sie erzählte, welche neuen Mittel sie ausprobiert haben, ob es Erfolge oder Misserfolge gab, was sie noch zu tun gedenkt. Kurz, Svenjas Krankheit beherrschte immer wieder jede Unterhaltung. Da spürt ein Kind sehr deutlich: Wegen meiner Neurodermitis bin ich wichtig, stehe ich mehr im Mittelpunkt als meine Geschwister. Dadurch entwickelt es dann einen (ihm natürlich nicht bewussten) Widerstand gegen alle Therapien; denn wenn die Haut besser würde, müsste es ja seine besondere Stellung verlieren. Das Gleiche gilt, wenn Sie immer wieder von  der Wildheit des Kindes, von seiner Langsamkeit oder gar vom nächtlichen Einnässen im Beisein des Kindes erzählen. Warum sollte es dieses so wunderbar geeignete Mittel, um Beachtung zu bekommen, aus der Hand geben?

Mit Ihrem Kind aber sollten im Gespräch sein., gerade wenn es um Erkrankungen geht. Svenjas Mutter sollte mit ihr über die Haut reden; denn irgendwann wird sie sich mit anderen Kindern vergleichen und fragen: Warum gerade ich? Dann können Sie dann nur ganz ehrlich antworten, dass Sie das nicht wissen. Sie können aber auch sagen, dass jeder Mensch irgend etwas hat, das er sich anders wünscht. Der eine braucht eine Brille, eine Zahnspange oder einen Hörapparat, einer anderer ist zu dick, zu dünn, zu groß oder zu klein, einer hat ein schwaches Herz usw.. Wenn man nun immer auf das guckt, das einen belastet, kann man alles Gute gar nicht mehr richtig sehen. Und nun können Sie aufzählen: Du bist so gelenkig oder kannst so schnell laufen, du hast Augen wie ein Luchs, singst oder malst ganz toll....Es gibt bei jedem Kind etwas, über das man sich ehrlich besonders freut, und das sollten Sie in den Vordergrund rücken!

Nicht nur unser Reden kann unser Kind auf seine besondere Rolle festlegen. Wenden wir uns ihm immer dann besonders zu, wenn es etwas angestellt hat (auch wenn es dann nur in Form von Schimpfen oder Erklären geschieht), kann dieses aus unserer Sicht unnütze Verhalten für das Kind ein durchaus geeignetes Mittel zum Zweck sein.

Seit einiger Zeit haben die beiden Töchter der Familie die Aufgaben, täglich den Abendbrotstisch zu decken. Während Juliana, die ältere, das immer besonders liebevoll macht, manchmal mit Kerzen oder Blumen, einem Muster auf der Butter u.ä., muss Pauline häufig erinnert, oft mehrfach aufgefordert werden. Außerdem fehlen regelmäßig einige Dinge. Die Mutter hat schon so oft mit ihr darüber gesprochen ,aber es ändert sich nicht.

Beide Kinder haben sich unbewusst ihre Rolle gesucht, durch die sie die größte Beachtung finden, die eine durch ihre Tüchtigkeit, die andere, indem sie die Mutter dazu bringt, sie immer wieder zu ermahnen und sich an sie zu wenden..

Um besondere Beachtung zu erhalten, suchen sich Kinder häufig - ähnlich wie in dem beschriebenen Beispiel - ein gegensätzliches Verhalten zu dem der Geschwister. Zugespitzt könnte man sagen: Um seine besondere Position zu erlangen, wird ein besonders braves Kind immer braver und ein besonders ungezogenes immer ungezogener. Das heißt für uns: Je mehr wir positive wie negative Verhaltensweisen beachten und herausstreichen, desto stärker drängen wir die Kinder dazu, sich immer wieder (natürlich unbewusst) nach den gleichen Mustern zu verhalten. Konkret hätte die Mutter mit den Kindern z. B. verabreden können, dass erst gegessen wird, wenn alles fertig ist. Dann hätte sie kommentarlos gewartet, bis Pauline tatsächlich alles auf den Tisch getan hat.

Steht ein Kind wegen seiner Lebhaftigkeit, seiner Bravheit, seiner guten Leistungen, seiner Geschicklichkeit o. ä. besonders im Mittelpunkt, so sucht sich das andere Kind den Weg als Schweiger, als Ungezogener, Leistungsschwacher oder Ungeschickter seinen Platz. Auch für ein drittes und viertes Kind gibt es noch unbesetzte Plätze. Vielleicht überlegen Sie einmal, wie diese in Ihrer Familie besetzt sind! Wenn wir vermeiden wollen, dass unser Kind sich so stark auf eine Rolle festlegt - gerade wenn es eine ziemlich anstrengende z. B. des Familienclowns oder Faulpelzes ist - müssen wir den Kindern immer wieder zeigen: Du gehörst dazu. Wir mögen dich. Du bist uns wichtig, und zwar, weil du du bist und nicht, weil du dieses oder jenes tust.

Das Beispiel von Björn und Lars am Anfang des Vortrags ist zwar konstruiert, aber die Rollen der beiden Kinder habe ich ganz bewusst so gewählt: Der ältere (Lars) als der ruhige, zurückhaltende, introvertierte neben dem jüngeren Bruder (Björn) als dem lebhaften, offenen, extrovertierten ist eine sehr verbreitete Konstellation. Denn selbst wenn sich jedes Kind seine Rolle nach den Gegebenheiten sucht, die in der Familie vorhanden sind, gilt doch einiges grundsätzlich im Blick auf die Geschwisterkonstellation.

Das möchte ich im Folgenden aufzeigen:

Das erste Kind genießt wenigstens eine Zeitlang die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Eltern. Mal ehrlich! Sind bei Ihnen nicht auch vom ersten Kind die meisten Fotos vorhanden? Gibt es über das älteste Kind ein Tagebuch, aber nicht mehr über die anderen? Es ist ja auch für Eltern etwas ganz Besonderes, zum ersten Mal einen kleinen Menschen entstehen und aufwachsen zu erleben.. Alles ist neu, die erste Bewegung im Mutterleib, die Geburt, das Stillen., erste Erziehungsversuche..... In das Staunen und die Freude über das kleine Wesen mischen sich aber auch bange Fragen. Mache ich alles richtig? Werde ich meinem Kind gerecht? Eltern ihres ersten Kindes fühlen sich oft unsicher; denn  obwohl es eine Fülle von Ratgebern gibt, sind diese häufig so widersprüchlich, dass es wirklich schwer ist, gute und hilfreiche Entscheidungen zu treffen. Und ich kann Ihnen verraten. Das bleibt das Los des ersten Kindes bis zur Volljährigkeit; denn wenn Sie sich im ersten Jahr vielleicht über eine gesunde Ernährung den Kopf zerbrechen, dann ist es sechs Jahre später etwa die Überlegung, welche Wege das Kind schon allein machen kann und noch einmal sechs Jahre später die Frage, ob Freund oder Freundin bei dem Kind übernachten darf usw. Bei Ihrem ersten Kind treffen Sie alle Entscheidungen zum ersten Mal. Bei weiteren Kindern helfen Ihnen die Erfahrungen.

Weil die Eltern noch unsicher sind im Umgang mit ihrem Erstgeborenen, verhalten sie sich meistens ängstlicher, besorgter und nachsichtiger als bei späteren Kindern. Daraus kann Sohn oder Tochter die Haltung entwickeln: Ich brauche mich nicht so sehr anzustrengen. Meine Eltern tun, was ich will, wenn ich (z.B.) nur laut genug schreie, liebevoll genug bettele oder meine "Wasserkraft" (=Tränen) einsetze. Oder: Wenn ich mich unsicher zeige, werden sie mir schon beistehen. Manche Eltern sind allerdings auch viel strenger aus Angst, etwas falsch zu machen. Dann kann ein Kind sich nur sehr langsam zu einem eigenständigen verantwortlichen Menschen entwickeln.

Wird ein Geschwisterkind geboren, wird das erste „entthront“ (Alfred Adler). Hier kommt es nun auf das Alter des ersten Kindes an und darauf, wie die Eltern sich bei der Ankunft des Geschwisterchens verhalten, ob sich bei dem ersten das Gefühl des Abgemeldetseins, des Nicht-mehr-beachtet-werdens einstellt, ob sich das erste Kind seines Platzes ganz sicher bleibt oder ob es neue Strategien entwickelt, wie es sich die Beachtung durch die Eltern erhält.

Ein eindrucksvolles Beispiel erlebte ich bei der Tauffeier der jüngeren Schwester eines dreijährigen Mädchens. Als alle um den Kaffeetisch saßen, kam Kristin plötzlich herein, Vaters viel zu große Bastelschürze um den Bauch gebunden, einen Schuh und einen Schutzlappen in der Hand und fragte in die Runde: “Bin ich nicht eine tüchtige Tochter?“

Sie hatte sich also ganz klar die Rolle der Großen und Tüchtigen gesucht. Das ist durchaus in Ordnung. Nur sollten Eltern darauf achten, dass die Große so groß ja nun auch noch gar nicht ist, dass sie viel Zuwendung braucht und nicht immer nur die Tüchtige sein muss.

Häufig ist das Neugeborene gar nicht so sehr der Rivale oder die Rivalin (dass man bei der Ankunft eines Babys sich besonders um das ältere Kind kümmern muss, ist inzwischen allgemein bekannt), sondern die Entthronung wird erst empfunden, wenn das kleinere Geschwisterchen einige Fähigkeiten und Fertigkeiten erworben hat, wenn es an die Spielsachen des Großen geht, Dinge kaputtmacht oder auch nur durch längere Wachzeiten mehr in das Blickfeld rückt. Nun wird das erste Kind um seinen Platz kämpfen und dafür Mittel einsetzen, die es in seinem Leben bisher als hilfreich erlebt hat. Erst wenn diese nicht den gewünschten Erfolg bringen, wird es sich neue Strategien suchen.

(Noch eine Randbemerkung dazu: Wenn auch Eltern ganz bewusst ihr erstes Kind mit einbeziehen bei der Ankunft eines Geschwisterchens, so sind doch Nachbarn, Tanten, Großeltern.... häufig nicht so verständig, sondern stürzen sich förmlich auf das Baby. Da ist manchmal eine Bemerkung vorweg eine gute Sache; denn diese Leute wollen ja nicht absichtlich dem älteren Kind wehtun).

Schließlich ist dem ältesten von mehreren Kindern meistens eigen, dass es Verantwortung übernimmt für die kleineren Geschwister und darin seinen besonderen Wert sieht. Das prägt viele Menschen so, dass sie eine Berufswahl treffen, in der Fürsorge für andere, auch Führung von anderen eine Rolle spielt.

Das zweite Kind kennt von vorneherein nur das Leben mit einem Geschwisterkind. Es ist es gewohnt, die Aufmerksamkeit seiner Eltern ebenso wie materielle Dinge mit Bruder oder Schwester zu teilen und hat damit in der Regel weniger Probleme als der oder die Große. Aber das jüngere Kind wird auch dadurch geprägt, dass es jemanden vor sich hat, der älter, größer, fähiger, mächtiger ist. Deshalb ist sein Streben häufig, das erste Kind mindestens zu erreichen, wenn schon nicht zu überholen, und zwar kann das auf allen möglichen Gebieten geschehen: im Blick auf Angepasstheit und Freundlichkeit, auf Leistung, aber ebenso auch im Blick auf Ungehorsam, Faulheit, Frechheit... Es kommt eben darauf an, welche Methoden es als brauchbar erkennt, seinen Platz in der Familie zu behalten bzw. zu bekommen.

Lassen Sie mich ein Beispiel dazu erzählen:

Als unsere älteren Söhne fünfeinhalb und vier Jahre alt waren, wollten sie beide gerne Flöte spielen lernen. Sie hatten ja miterlebt, dass ich Blockflötenunterricht gab und wollten nun eben auch Musik machen. Mit noch einem dritten Kind aus der Nachbarschaft fingen sie an, alle drei mit Feuereifer. Doch unser zweiter Sohn, der mindestens so musikalisch ist wie der älteste, hatte ganz schnell keine Lust mehr.

Warum? Er merkte, dass der Große es viel leichter und besser schaffte, die Löcher abzudecken und saubere Töne zu blasen. Um sich nicht mit dem Bruder vergleichen zu müssen, wollte er nun gar nicht mehr flöten. Wir haben ihm dann ein Xylophon gekauft, und später hat er Klavierstunden bekommen. Das war für mich ein wichtiges Erlebnis, mir selber vorzunehmen, die Kinder nicht immer einem Leistungsvergleich auszusetzen. Das heißt gerade bei Kindern, zwischen denen der Altersabstand gering ist, sollte man nicht unbedingt die gleichen Aktivitäten wählen, sei es beim Musikunterricht, beim Sport, Besuch einer Malschule o.ä. Das ist so einfach gesagt, aber in der Praxis nicht immer leicht umzusetzen.

So fieberte ein Nachbarsjunge dem Tag entgegen, an dem er endlich alt genug war, um auch im Sportverein Fußball spielen zu dürfen. Das Bolzen mit den Freunden auf der Grünfläche hinter der Schule genügte ihm schon lange nicht mehr. Als er dann endlich in den Verein durfte, geschah folgendes: Er stellte sich so geschickt an, dass der Trainer ihn lobte und gleich in die Sturmspitze stellte. Alle zollten begeistert Beifall, als er in einem Punktspiel sein erstes Tor erzielte, und am Mittagstisch der Familie war das das große Thema. Jan der ältere Bruder - ebenfalls in dieser Mannschaft - ging immer widerwilliger zum Training und erklärte nach ein paar Wochen, er habe keine Lust mehr zum Fußballspielen und wolle aus dem Verein austreten.

Uns ist klar, was geschehe ist: Der Kleine hat ihm seinen Platz streitig gemacht, nicht nur dass er in seine besondere Domäne eingedrungen ist, er hat ihm auch gleich noch die Show gestohlen. Seine Leistungen wurden nicht mehr beachtet. So fordert es von uns Eltern immer wieder viel Fingerspitzengefühl, unseren Kinder gerecht zu werden (Jan ist übrigens später ein guter Handballspieler geworden).Auf alle Fälle ist es wichtig, darauf zu achten, dass jedes Kind seinen Bereich hat, in dem es etwas leistet oder auch nur sich wohlfühlt, ohne dass ihm jemand diesen Platz streitig machen kann. Es ist eine falsche Auffassung, dass Gerechtigkeit seinen Kindern gegenüber notwendig bedeuten muss, dass alle die gleichen Dinge und Angebote bekommen. Vielmehr wird man seinen Kindern dann gerecht, wenn man die Wünsche, Neigungen und Eigenarten jedes einzelnen im Blick hat und jedem individuell die Möglichkeiten schafft, die er zu seiner speziellen Entwicklung braucht.

Wenn das ältere Kind das jüngere abwertet, also zum Beispiel sich lustig macht über die ersten Zeichenversuche der kleinen Schwester, Schadenfreude zeigt, wenn der kleine Bruder hinfällt, können wir daran leicht erkennen, dass es z.Zt. seinen Platz nicht gefunden hat bzw. nicht genug Zuwendung empfindet. Wer andere klein macht, fühlt sich nämlich selber klein! Das ist übrigens ein Satz, den Sie Ihren Kindern getrost sagen können, wenn sie das Opfer sind. Dem Kind, das andere herabsetzt, helfen Sie mehr, wenn Sie ihm besondere Beachtung entgegenbringen und ihm zeigen, wie wichtig es Ihnen ist.

Kinder vergleichen sich untereinander. Das ist normal und hilft, mit Kritik umgehen zu lernen. Das halte ich übrigens für einen wichtigen Entwicklungsschritt, weil Menschen ihr ganzes Leben lang immer wieder durch andere beurteilt werden und sich Kritik stellen müssen. Ich erlebe heute, dass das häufig zu kurz kommt. Aus Angst, ein Kind zu entmutigen, sagen Eltern nicht mehr deutlich, dass das Kind diese oder jene Sache nicht gut gemacht hat. Bitte achten Sie hier genau auf den Wortlaut: Nicht das Kind ist schlecht, sondern das Verhalten oder die Ausführung einer Aufgabe! Kritik ist in keinem Falle angenehm. Aber wenn wir sie so üben, dass wir nicht das Kind als Person in Frage stellen, kann das Kind lernen, damit umzugehen und wird dann auch später in Schule und Beruf davon nicht gleich umgehauen.

Bei Kritik unter den Geschwistern sollten wir darauf achten, dass auch fair verglichen wird. Man kann nicht die Bastelarbeit oder Zeichnung einer Fünf- und einer Dreijährigen gegeneinander abwägen. Da muss man schon gucken, wie die Große mit 3 Jahren gemalt hat! Wir Eltern sollten uns hüten vor Vergleichen. Viel wichtiger ist es, die Entwicklung jedes einzelnen Kindes anzuschauen und sich über Fortschritte zu freuen

Bei zwei Kindern ist die Rollenverteilung relativ klar. Ich werde nie vergessen, dass meine Nichte beim Hören des Märchens von Schneewittchen und den 7 Zwergen die Frage stellte „Gibt es da auch Jüngste?“ Besser hätte sie gar nicht deutlich machen können, wie wichtig ihr diese (ihre) Position in der Geschwisterreihe war. Schwierig wird es deshalb besonders für das zweite Kind, wenn ein weiteres Baby in die Familie kommt; denn ihm fehlen dann die Privilegien des Jüngsten, das im allgemeinen mehr Betreuung erfährt. Es kann sich aber auch nicht uneingeschränkt an seiner Überlegenheit freuen, weil über ihm ja wieder jemand ist, der vieles besser schafft. Nicht von ungefähr spricht man vom „Sandwich-Kind“, demjenigen, das von beiden Seiten gedrückt wird. Es gibt keine Regel dafür, welche Methode das mittlere Kind entwickelt, um einen festen Platz in der Familie zu haben, aber sicher wird es eine andere sein als die seiner Geschwister.

Ähnliches gilt für alle mittleren Kinder, wobei der Altersabstand und das Geschlecht noch eine Rolle spielen. Ist der Altersabstand größer als fünf Jahre, gilt häufig eher das, was ich gleich noch über Einzelkinder sagen werde (die Psychologen sprechen bei Geschwistern mit einem Altersabstand über fünf Jahren von zwei Einzelkindern). Oft bilden sich dann auch „Koalitionen“, die beiden Großen und der Kleine, der Große und die Kleinen, wie auch immer. Als hilfreich hat sich jedoch erwiesen,  besonders dem ältesten Kind irgend ein Privileg einzuräumen, eine halbe Stunden länger aufbleiben, ein Spiel, was die jüngeren noch nicht können oder ähnliches. Meine Erfahrung ist nämlich, dass die ersten Kinder sich am ehesten und am heftigsten zurückgesetzt fühlen. Manchmal kann man sich auf den Kopf stellen und größte Anstrengungen machen, aber das älteste Kind hat immer noch das Gefühl zu kurz zu kommen. Das sage ich hier so deutlich, weil ich dem vorbeugen möchte, dass Ihre Große oder Ihr Großer Ihnen permanent ein schlechtes Gewissen macht. mit „Nie darf ich!“ und „Immer sind die anderen dran!“ Da müssen Sie sich nicht verteidigen und schon gar nicht sich drei Beine ausreißen. Sie werden den Vorwurf kaum entkräften können, und Sie helfen Ihrem Kind nicht, wenn sie es jetzt übermäßig verwöhnen und keine Grenzen mehr setzen, nur um eine liebe Mama oder ein lieber Papa zu sein!

Das jüngste Kind wird oft mehr umsorgt als die älteren, da viele Eltern das letzte Kind noch lange abhängig und schutzbedürftig behalten möchten. Das ist ihnen meistens gar nicht bewusst. Ich denke aber, dass wir hier ganz besonders unsere eigenen Gefühle klären müssen. Ein Abschnitt in unserem Leben geht unwiderruflich zuende. Alles ist das letzte Mal, die Schwangerschaft, das Stillen, das Miterleben, wie ein kleines Wesen die Welt entdeckt und sich entwickelt. Für manche Mütter überwiegt die Freude auf mehr eigenen Freiraum, wenn die Kinder älter werden. Aber viele möchten doch gerne die Kleinkindphase festhalten und lassen dem Jüngsten deshalb nicht genug Möglichkeiten, sich zu entfalten. Mit einem kleinen Kind fühlt man sich außerdem jünger als mit großen Kindern. Akzeptiert man, dass die Kinder älter werden, geht damit einher die Erkenntnis, dass man selber auch älter wird, und das fällt vielen nicht leicht.

Auch nehmen beim jüngsten Kind häufig die Geschwister eine Beschützerrolle ein und fühlen sich dadurch wichtig. Es kann nun diese ihm zugedachte Rolle annehmen und unselbstständig bleiben (da ist ja immer jemand, der die Schuhe zumacht, das Brot streicht o.ä.).Es kann aber auch die Betreuungsbemühungen ausschlagen und ganz schnell all die Fertigkeiten erlernen, dass es von Hilfen durch die Geschwister unabhängig wird. (Ich bin davon überzeugt, dass unser dritter Sohn nur so schnell laufen gelernt hat, nämlich mit 9 Monaten, weil er seinen großen Brüdern hinterherkommen wollte) Die besondere Rolle des jüngsten Kindes kann auch darin bestehen, dass es zum Familienkasper wird, besonders trotzig, wild, laut oder leise ist - je nach dem, welche Position noch nicht besetzt und ihm am erfolgversprechendsten erscheint.

Was Kinder aus großen Familien in der Regel anderen voraus haben, ist ihre Fähigkeit, sich in Gruppen einzufügen, sei es nun dass sie bei einem Schüleraustausch in einer fremden Familie zurecht kommen oder sich in einer Firma mit verschiedenen Mitarbeitern arrangieren müssen. Wenn zuhause das Familienklima stimmt, lernen sie fast automatisch, auf andere Rücksicht zu nehmen, aber auch die eigenen Bedürfnisse nicht zu vergessen.

Für das Einzelkind gilt wie für das Erstgeborene die ungeteilte Aufmerksamkeit seiner Eltern, aber auch deren oben beschriebene Unsicherheit mit ihren Folgen. Eine wichtige Rolle spielt auch die Tatsache, dass es außer den Eltern häufig niemanden hat, an dem es sich messen kann. Am Verhalten der Eltern liegt es, ob das Kind resigniert, weil es trotz aller Anstrengungen Vater und Mutter nicht erreichen kann und entmutigt seine Bedeutung nun im Nichtkönnen, im Verwöhntwerden sucht, oder ob die Eltern ihm Zutrauen in die eigenen Fähigkeiten vermitteln und ihm damit Mut machen. Es ist klar, dass ein Einzelkind viel mehr im Mittelpunkt steht, dass es nicht so selbstverständlich das Teilen von materiellen wie ideellen Gütern (Zeit, Zuwendung) lernt, aber dass es auch sehr allein sein kann, stehen die Eltern nicht zur Verfügung - etwa durch ihre Berufstätigkeit.

Wie leicht man in Gefahr gerät, ein Einzelkind zu verwöhnen, ist mir erst bei meiner Enkeltochter deutlich geworden. Wenn sie einen Wunsch äußert, bin ich nicht nur eher geneigt ihn zu erfüllen, weil ich die Großmutter bin. Ein Eis, ein kleines Geschenk – das fällt nicht ins Gewicht, aber bei mehreren Kindern wird es ein Kostenfaktor. Das können auch Kinder bald einsehen, aber warum sollte ich es ihr abschlagen? Das Gleiche gilt für die Aufmerksamkeit und Zeit, die man einem Kind widmet. Wenn das Baby schreit, ist es für das ältere Geschwisterkind klar, dass die Mutter nach ihm schaut (und dafür z. B. ein Spiel unterbricht). Wenn der große Bruder Hilfe bei den Hausaufgaben braucht, muss sich die kleine Schwester eine Weile allein beschäftigen. Das lernt sie einzusehen. Aber beim Einzelkind? Hier ist ganz wichtig, dass Eltern ihre Bedürfnisse gegen die des Kindes setzen. „Jetzt möchte ich ein halbe Stunde in Ruhe meinen Kaffee trinken und die Zeitung lesen!“ ist also nicht eine egoistische Forderung der Mutter, sondern hilft dem Kind die Ansprüche von anderen akzeptieren zu lernen.

Eltern können durch vernünftige Grenzen viel dazu beitragen, dass ihr einziges Kind nicht eine kleine Prinzessin oder ein kleiner Prinz wird. Da aber, wie ich vorhin bei der größeren Geschwisterschar beschrieben habe, Kinder auch viel von einander lernen, sollte das Einzelkind häufig Gelegenheit haben, mit anderen Kindern zu spielen. Wenn es dann sehr vertraute Freundinnen oder Freunde gibt, übernehmen diese durchaus die Funktionen, die sonst Geschwister haben. Einen Unterschied gibt es allerdings: Geschwister kann man nicht wegschicken, Freundschaften dagegen sind kündbar.

Ein Beispiel soll noch einen wichtigen Aspekt deutlich machen:

Shari hatte zum ersten Mal Schlafbesuch von ihrer Freundin. Das war aufregend und beide Mädchen hatten sich sehr darauf gefreut. Doch zum Abend hin wurde Anna immer ruhiger, sie fühlte sich unsicher und wäre am liebsten nach Hause gegangen. Das spürte Sharis Mutter, die sich nun besonders liebevoll um Anna kümmerte. Auf einmal bemerkte sie, dass Shari alle möglichen verbotenen Sachen machte, frech wurde – so ganz anders als sonst.

Welche Gründe das hatte, erfuhr die Mutter erst am nächsten Tag in einem langen Gespräch mit ihrer Tochter. Da hieß es: „Du warst zu Anna so lieb. Da glaubte ich, du hast sie lieber mich!“ Die Mutter hat dann sehr klug reagiert und ihr gesagt: „Ich wünsche mir, dass Annas Mutter das genauso mit dir macht, wenn du dort schläfst. Aber dass ich dich so lieb habe, wie man nur kann, das ist so und bleibt immer so, auch wenn ich nett zu anderen bin.“ Eine Erfahrung, die Geschwister täglich machen, war für Shari ganz neu. Sie ist aber wichtig, weil sie uns hilft gegen Eifersucht und Egoismus.

Ein besonderer Fall sind Zwillinge, wobei hier eine wesentliche Rolle spielt, ob sie gleich- oder verschiedengeschlechtlich sind und ob sie einander stark ähneln. Für alle gilt, dass sie die besondere Zuwendung in der Säuglingsphase stets teilen müssen. Selbst wenn mehrere Kinder in einer Familie sind, gibt es in der Regel Privilegien für das Neugeborene. Seine Bedürfnisse werden befriedigt, wenn es nötig ist. Haben Zwillinge gleichzeitig die Windeln voll, muss immer ein Kind warten usw. Vielfach gilt auch, dass Zwillinge keinen so guten Start ins Leben haben, da sie oft zu früh geboren werden. Häufig ist die innere Verbindung von Zwillingen enger als die anderer Geschwister, und das weit über die Kindheit hinaus. Ich bin selber Zwilling und werde nie vergessen (obwohl es jetzt 20 Jahre her ist), dass meine Zwillingsschwester an dem Tag, als ich meine Krebsdiagnose bekam, bei mir anrief und sagte: „Ich hatte den ganzen Tag so ein ungutes Gefühl. Ich musste einfach bei dir anrufen und fragen, ob alles in Ordnung ist.“, und das hat sie so nur an dem Tag gemacht.

Ähneln sich Zwillingskinder stark, so liegt es an den Eltern, jedem eine eigene Persönlichkeitsentwicklung zu ermöglichen und die beiden nicht immer nur als „die Zwillinge“, also als eine Einheit zu sehen. Es ist sicher lustig  für die Umwelt und oft auch für die Kinder, die Mitmenschen zum Narren halten zu können. Ja, der Satz meiner Zwillingsschwester als Fünfjährige „Ich weiß aber immer, wer ich bin!“ macht auch deutlich, dass, ein Gefühl der Überlegenheit entstehen kann, wenn man die verzweifelten Versuche der Erwachsenen bemerkt, die Zwillinge auseinander zu halten.. Doch je älter die Kinder werden, desto belastender kann es auch sein, wenn das Kind spürt, es wird nur als Zwilling beachtet, nicht aber als das Kind XY. Häufig gelingt es nur, jedem Zwilling eine eigene Entwicklung zu ermöglichen, wenn man sie in verschiedene Kindergartengruppen und Schulklassen gibt.

Das sind nun ganz allgemeine Gesichtspunkte, welche Bedeutung die Position in der Geschwisterreihe für ein Kind hat. Ich denke aber, ich habe häufig genug betont, dass noch viele andere Faktoren für die Persönlichkeitsentwicklung eine Rolle spielen und ein Kind nicht nur so oder so ist, weil es das erste , zweite,  dritte usw. ist.

Ergänzen möchte ich noch, dass eine wesentliche Rolle auch Geschwister spielen, die gestorben sind. Sie leben in der Erinnerung weiter, werden möglicherweise sogar idealisiert, und gehören damit in den Kreis derer, mit denen sich das Kind auseinandersetzen muss. Negative Erinnerungen verblassen schnell, schwierige Entwicklungsphasen, in denen das noch lebende Kind gerade steckt und sich dort mit den Eltern auseinandersetzt, hat die Familie mit dem verstorbene Kind vielleicht gar nicht erlebt. Bei den Eltern sitzt möglicherweise die Angst sehr tief, auch das andere bzw. die anderen Kinder zu verlieren. Manche mögen auch spüren, dass sie nur „Ersatzkind“ sind, andere erleben ihre Eltern nicht fröhlich oder geben sich gar Schuld am Tod des Geschwisters. Es bedarf großen Einfühlungsvermögens in einer Familie, damit der Schatten des Verstorbenen nicht zu belastend wirken kann.

Auch kranke oder behinderte Familienmitglieder beeinflussen die Art und Weise, auf die ein Kind seinen Platz in der Familie sucht und findet. Häufig muss das gesunde Kind mehr Rücksicht nehmen, auf Zuwendung zugunsten des kranken oder behinderten verzichten, eigene Wünsche zurückstecken und Einschränkungen der Familie akzeptieren.

Es ist immer wieder spannend, die Interaktionen in einer Familie zu beobachten. Ich hoffe, dass deutlich geworden ist: Die möglichen Rollen, die sich Kinder in der Familie suchen, können auch ganz anders aussehen, aber es gibt sie in jedem Fall! Wünschen würde ich mir, dass Ihnen das heute Gehörte hilft, Verhaltensweisen Ihrer Kinder besser zu verstehen  und darum auch angemessener darauf reagieren zu können.